Nehmen Ängste überhand, machen sie krank. Jedes zehnte Kind erlebt in seiner Entwicklung eine behandlungsbedürftige Angst. Woher Kinderängste kommen – und was dagegen hilft.
Ein Mädchen wirbelt in luftiger Höhe, mal kopfüber im Spagat, mal wie eine Spinne an einem losen Tuch hochkletternd. Anna* ist 15 Jahre alt. Was gibt ihr Sicherheit? Das um den Fuss gewickelte Tuch? Oder ist es die Angst, die Anna jede Bewegung mit grösster Vorsicht ausführen lässt? Seit fünf Jahren macht die Jugendliche Zirkusakrobatik, am liebsten am Vertikaltuch und am Luftring. Sie habe Höhenangst, sagt sie. Aber an diesen Geräten fühle sie sich sicher. Warum? Anna: «Weil ich mich selbst halten kann.»
Dann, am Abend, zu Hause. Anna hilft ihrem Vater kochen. Der Käse fehlt. «Holst du ihn bitte aus dem Keller?», fragt der Vater. Anna zögert. Im Keller ist es dunkel. Was, wenn jemand dort ist? Was, wenn die Tür zugeht und sie alleine eingesperrt bleibt? In Windeseile türmen sich ihre Gedanken zu einem Angstgebilde. «Komm bitte mit», sagt Anna leise zu ihrer jüngeren Schwester. Die Schwester stöhnt: «Du hast immer Angst!» – und geht dann mit.
In der Pubertät sind Mädchen doppelt so häufig wie Jungs von Ängsten betroffen.
Jedes zehnte Kind erlebt im Verlauf seiner Entwicklung eine behandlungsbedürftige Angst. Jungen und Mädchen sind im Kindesalter etwa gleich häufig betroffen – in der Adoleszenz trifft es Mädchen rund doppelt so häufig wie Buben.
Doch was ist Angst eigentlich, woher kommt sie und wie können Eltern sie bei ihrem Kind erkennen? Welche typischen Angststörungen gibt es? Und: Wie werden sie behandelt? Diesen und weiteren Fragen wollen wir auf den Grund gehen.
Bevor eine krankhafte Angst behandelt werden kann, muss sie erkannt werden. Für Eltern ist es nicht immer einfach zu entscheiden, wann eine Angst normal, wann sie klinisch relevant und wann es überhaupt eine Angst ist. «Kinder reden wenig über Ängste», sagt Susanne Walitza. «Generell zeigt sich Angst mehr durch körperliche Symptome.» Kinder klagen dann zum Beispiel über Bauchschmerzen, Übelkeit oder Kopfschmerzen.
Die Angst hat viele Gesichter
In der Psychologie wird Angst als eine Emotion verstanden, die sich auf eine als bedrohlich empfundene Situation bezieht. Die Art der Bedrohung bleibt eher unbestimmt und geht mit Vorstellungen einher, was geschehen könnte. Davon abzugrenzen ist die Furcht: Sie bezieht sich auf eine konkrete Bedrohung und ist begründbar. Wirkt die Furcht jedoch übertrieben stark, löst sie eine unmittelbare Reaktion aus und kann zu körperlichen Symptomen und zu Vermeidungsverhalten führen. In einem solchen Fall spricht man von einer Phobie. Besteht für eine plötzliche und heftige Angstreaktion keine äusserlich erkennbare Gefahr, handelt es sich um Panik.
Die Angst gehört zu den grundlegenden Gefühlszuständen, gerade im Kindes- und Jugendalter spielt sie eine zentrale Rolle. Mit jedem Übergang von einer Entwicklungsphase in die andere stehen neue Herausforderungen an, das Kind lernt Unbekanntes, vergrössert seine Autonomie und wird durch das Erleben von Angst auf Gefahren hingewiesen und davor geschützt. Das geht mit typischen, in der Regel schwachen Entwicklungsängsten einher wie mit der Angst vor Fremden, vor Monstern, vor Krankheiten oder vor Ablehnung.
Mit jeder Entwicklungsphase stehen für das Kind neue Herausforderungen an, die Angst spielt dabei eine zentrale Rolle.
Von einer Störung spricht man dann, wenn die Angst unbegründet stark ist und lange anhält, sie Leid verursacht und das Kind beeinträchtigt. «Langfristig verhindert eine Angststörung die Entwicklung des Kindes», sagt Simone Munsch. Sie ist Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie und Leiterin der psychotherapeutischen Praxisstelle der Universität Fribourg. Angst habe die Tendenz, sich auszubreiten: «Zuerst bezieht sie sich auf das Flugzeug. Dann auf den Bus, den Zug, das Auto. Und am Schluss will das Kind gar nicht mehr aus dem Haus.» Ein Kind expandiere seinen Bewegungsraum über die Entwicklung hinweg. Klinisch relevante Angst tue das Gegenteil: «Sie schränkt den Bewegungsraum stark ein. Nicht nur beim Kind, sondern bei der ganzen Familie.»
Zu den ersten Angststörungen im Verlauf der Entwicklung gehört die Trennungsangststörung. «Sie tritt erstmals mit drei, vier Jahren auf. Ab dem Alter von 12 oder 13 Jahren klingt diese Art Angst wieder ab», sagt Silvia Schneider. Die Professorin lehrt klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. In Basel führte sie diverse Studien zur Trennungsangst durch.
Aufgrund von Ängsten die Ferien abbrechen?
Wie Angst den Bewegungsraum einschränken kann, erfuhr die Familie Imhof. Tochter Elena erkrankte mit sechs Jahren an einer ausgeprägten Angststörung. Ihre Mutter Simone hielt in einem Tagebuch – dem «Elena-Buch» – in regelmässigen Abständen die wichtigsten Entwicklungsschritte und Erlebnisse ihrer Tochter fest. Die folgenden Zeilen wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten niedergeschrieben:
«Eine Harnleiterreizung […] hat dich derart verunsichert, dass du nicht mehr in den Kindergarten gehen wolltest. Es könnte ja schon jemand auf der Toilette sitzen, wenn du dringend müsstest!» | «Moma und ich haben dir die Schuhe zu zweit angezogen, ich habe dich in den Kindergarten getragen, unter grösstem Geschrei.» | «Die Ferien mussten wir abbrechen.»
«Unsere Familie erlebte einen totalen Zusammenbruch.»
Simone über die Angst ihrer Tochter Elena.
Diese paar Sätze lassen erahnen, wie stark die Angst den Alltag der Imhofs beeinflusst haben musste. Mutter Simone sagt: «Unsere Familie erlebte einen totalen Zusammenbruch.» Elena versteckte sich hinter dem Sofa und klammerte sich schreiend an der Wohnzimmersäule fest. Für das Anziehen brauchte es zwei Erwachsene. Ständig waren die Eltern auf Abruf bereit für den Fall, dass sie Elena irgendwo abholen mussten. Elenas kleine Schwester Lilly verbrachte Schulpausen mit ihrer grossen Schwester und die Grosseltern begleiteten ihre Enkelin Mittwoch für Mittwoch in die Psychotherapie.
Wovor hatte das Mädchen solche Angst?
Elena kann sich heute nur vage erinnern. «Ich glaube vor dem Erbrechen», sagt sie. Emetophobie heisst diese spezifische Angststörung im Fachjargon.
Je nach Diagnosesystem und Alter der betroffenen Personen werden Ängste unterschiedlich klassifiziert. Drei häufige Angststörungen im Kindes- und Jugendalter sind die emotionale Störung mit Trennungsangst, die phobische Störung und die Störung mit sozialer Ängstlichkeit – der Einfachheit halber im Folgenden Trennungsangststörung, Phobie und soziale Angststörung genannt. Deutlich weniger häufig treten bei Kindern die generalisierte Angststörung und die Agoraphobie (Platzangst) auf.
Von einer Angst zur nächsten?
Im Verlauf der Entwicklung wird nicht selten eine Angst durch eine andere abgelöst.
«Eine entwicklungstypische Trennungs- und Fremdenangst haben die meisten Kinder ab acht Monaten bis zum Ende des zweiten Lebensjahres. Das Kind lernt zu differenzieren zwischen Bezugspersonen und Fremden. Behält das Kind diese Angst nach dem zweiten Lebensjahr bei, sprechen wir von einer behandlungsbedürftigen Störung.» Etwa 3 von 100 Kindern sind davon betroffen. Sie vermeiden Trennungssituationen, klammern sich an der Bezugsperson fest, weinen, trotzen und reagieren zum Teil aggressiv.
«Du hast dich gewehrt – mit Händen und Füssen. Im wahrsten Sinne des Wortes.» So hielt Simone Badertscher Imhof am 15. Januar 2011 eine Trennungssituation im «Elena-Buch» fest. Hatte das Mädchen eine Trennungsangst? «Die Trennung war für Elena immer ein Thema», sagt die Mutter. «Wir konnten aber zu wenig damit anfangen.» Also wurde diagnostiziert, was Elena so offensichtlich äusserte: die Angst vor dem Erbrechen.
«Für Eltern sind die Ängste nicht immer eindeutig zu unterscheiden», betont Silvia Schneider. Zudem werde im Verlauf der Entwicklung nicht selten die eine Angst durch eine andere abgelöst. «Die Emetophobie sehen wir häufig bei Kindern, die zuvor eine Trennungsangst hatten», so die Kinder- und Jugendpsychologin weiter.
Wie beim 11-jährigen Mike*: Seit sechs Jahren begleitet den aufgeweckten Buben eine Angst vor Guillotinen . «Eine komische Angst», sagt er selbst. Mike hat gelernt, alles zu umgehen, was nach der Epoche der Aufklärung aussieht – die Zeit, in der die Enthauptungsvorrichtung vorwiegend zum Einsatz kam. Wird er mit einer Guillotine konfrontiert, bricht bei ihm Panik aus: Er rennt davon, erstarrt oder sucht die Toilette auf. «Es ist gut, wenn wir das Wort nicht aussprechen», erklärt er im Gespräch höflich. «Sonst geht gar nichts mehr.» Das Vermeidungsverhalten ist typisch für Menschen, die unter Phobien leiden.
Unauffällig heisst nicht ohne Probleme
Vermeidungsverhalten kann einsam machen, besonders im Falle einer sozialen Angststörung. «Von dieser Angst sind mehrheitlich Jugendliche und junge Erwachsene betroffen», sagt Simone Munsch. «Die Angst bezieht sich auf verschiedene Situationen: Leistung, jemanden kennenlernen, flirten, in der Schule vor anderen sprechen oder Vorträge halten.» Oft dauert es lange, bis Aussenstehende die Angst bemerken. «In der Schule fallen Ängstliche wenig auf», sagt Simone Munsch. «Ruhige Jungs sind für Lehrer oft eine Entlastung. Der Fokus liegt mehr auf den Kindern, welche die Aufmerksamkeit einfordern.»
Sozialängstliche fürchten sich in erster Linie vor Bewertungen. So auch Anna. «In der sechsten Klasse waren alle weiter als ich, ich trug noch Röcklein. Deshalb wurde ich gemobbt.» Mehr als diese Mobbingsituation belastete das Mädchen aber das gänzlich andere Verhalten ihrer neuen Klasse, die sie besuchte, nachdem sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern an einen neuen Ort gezogen war: «Dort waren alle so nett miteinander. Sie haben mich akzeptiert, auch wenn ich ein Röcklein trug. Das kannte ich nicht. Mein Selbstwert sank.»
Mit Beleidigungen konnte Anna besser umgehen als mit Komplimenten. Anna entwickelte Ängste, die sie so stark einnahmen, dass sie nicht mehr in die Pfadi gehen konnte, nicht mehr in Schullager, nicht mehr zu Freunden und schliesslich nicht mehr zur Schule. Annas Angst bestimmte den Familienalltag, die Ausflüge, die Ferien und das Verhalten der Eltern. Sie hatte aber auch positive Effekte: «Ich begann, vieles zu hinterfragen und lasse nun Unwichtiges auch mal liegen», sagt Annas Vater. «Ausserdem gewann ich wieder Freude am Spielen und an gemeinsamen Momenten.»
«Ich fragte mich, ob ich zu streng war und mich eine Schuld betraf»
Annas Vater über die Angst seiner Tochter.
Wie andere Eltern suchte aber auch er den Fehler bei sich selbst: «Als Anna erkrankte, stand für mich die Frage der Schuld im Raum. Ich fragte mich, ob ich zu streng war. Waren die Kinder laut, kam es schon mal vor, dass ich sagte: Jetzt ist einfach Ruhe! Dann kam die Trennungs- und Scheidungssituation hinzu. Das hinterlässt Spuren bei den Kindern, unbestritten.» Im Nachhinein habe er die Frage der Schuld jedoch ablegen können: «Ich gab den Kindern ein Stück der Verantwortung zurück, lasse sie mehr leben und Fünfe auch mal gerade sein, um gute Momente mit ihnen zu verbringen.»
Liegt der Fehler bei den Eltern?
Mikes Mutter leidet an einer körperlichen Krankheit. Oft fühlt sie sich zu wenig da für ihren Sohn. Sie lebt getrennt von Mikes Vater im selben Haushalt. Gegen Ende Monat wird das Geld manchmal knapp. «Zudem bin ich selbst ängstlich», sagt sie. Auch Elenas Mutter suchte die Gründe bei sich. «Diese Frage stellt man sich automatisch», meint Simone Badertscher Imhof. «Aber wir haben Wunschkinder, eine tragende Beziehung und wir reflektieren viel – eigentlich eine gute Ausgangslage.» Anna hat ebenfalls ein tragendes Umfeld. Die Eltern leben getrennt, doch zu Vater und Mutter besteht ein regelmässiger Kontakt. Und ihre Schwestern murren zwar zuweilen über Annas Ängstlichkeit, sie stehen jedoch ganz zu ihrer Schwester. «Ich unternehme Dinge mit ihr, die sie glücklich machen», sagt Clea*, das jüngste der drei Mädchen.
«Ein wichtiges Ziel der Therapie ist, die Kinder und ihre Eltern mutig zu machen», erklärt Susanne Walitza.
Die Forschung sagt: Eltern beeinflussen die Angst ihrer Kinder. So ist Angst ansteckend, erklärt Simone Munsch: «Wenn in einer Familie ein ängstlich vermeidendes Verhalten vorherrscht bezüglich bedrohlichen Situationen, lernt dies das Kind.» Aber die Psychologin betont: «Angst hat nie nur eine Ursache. Meist sind es verschiedene Faktoren, die das Fass schliesslich zum Überlaufen bringen: kritische Lebensereignisse wie eine Trennung, der Verlust einer geliebten Person oder eines Haustiers oder ein Umzug.» Diese Ereignisse können eine Angst mitauslösen, müssen aber nicht.
Im Rahmen ihrer Forschung befasste sich auch Silvia Schneider mit den Ursachen: «Überbehütung und hohe Kontrolle der Eltern hängen stark mit Angststörungen der Kinder zusammen», betont sie. «Das Kind kann dann wenig selbst ausprobieren. Wir wissen aber, dass das Temperament des Kindes umgekehrt auch das Elternverhalten steuern kann.»
Angststörungen sind gut behandelbar. Als Therapiemethode der Wahl nennen viele Experten die Kognitive Verhaltenstherapie. Vereinfacht gesagt wird das Kind mit dieser Therapiemethode stufenweise der angstmachenden Situation ausgesetzt, bis es sich daran gewöhnt und die Angst allmählich schwindet.
Elena machte gute Erfahrungen mit einer Kombination aus verhaltenstherapeutischen Massnahmen und einer Spieltherapie. «Elena war so harmoniebedürftig», sagt die Mutter. «In der Spieltherapie konnte sie ihre dunkleren Seiten entdecken und ausleben. Es ging um Mord und Totschlag.» Die Angst nahm rasch ab, auch wenn sie bei grösseren Veränderungen jedes Mal erneut aufflackerte. Nach fünf Jahren konnte Elena ihre Therapie beenden.
Annas erste ambulanten Therapieversuche misslangen. Die Ängste waren zu komplex und mündeten in andere Störungen, die einer engmaschigeren Betreuung bedurften. Eine der häufigsten Störungen, die mit der Angst auftritt, ist die Depression. Bei Anna war es eine Essstörung. Mehrere Monate besuchte sie die Tagesklinik und die dort integrierte Schule. «Zu Beginn hatte ich Mühe hinzugehen», sagt Anna. «Dann trafen wir eine Abmachung: Ich musste einmal täglich dort auftauchen. Nach einer halben Stunde durfte ich wieder gehen. Dann haben wir es immer ein bisschen verlängert. Irgendwann ging es dann.» Zusätzlich nimmt Anna ein angstlösendes Antidepressivum. «Das muss manchmal sein, wenn die Angst nicht durch psychotherapeutische Interventionen gelindert werden kann», so Susanne Walitza. «Das ist aber die Ausnahme.»
Silvia Schneider bestätigt diesen Befund: In einer grossen Studie mit über 100 Kindern erreichten sie und ihr Team auch ohne Einsatz von Medikamenten eine hohe Erfolgsquote: «80 Prozent der Kinder haben von der Verhaltenstherapie profitiert.» Profitieren kann aber nur, wer auch hingeht. Und da liegt oft das Problem. So auch für Mike: «Ich habe mich informiert», sagt er. «Ich müsste dort Bildchen anschauen von diesem Ding. Das macht mir zu viel Angst.» Darum macht er noch keine Therapie.
«Es ist wichtig, darauf zu achten, dass die Geschwister nicht zu kurz kommen»
Susanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Je nach Komplexität der Angststörung und je nach Therapie dauert diese mal kürzer, mal länger. Für Elenas Schwester Lilly hätte sie ruhig noch andauern können. Sie durfte nämlich mit den Grosseltern in einem Tea-Room eine heisse Schokolade trinken, während Elena bei der Psychologin war. «Es ist wichtig, darauf zu achten, dass die Geschwister nicht zu kurz kommen», mahnt Susanne Walitza an. Darum lädt sie diese oft zum ersten Gespräch mit ein. «Aber wenn das betroffene Kind in eine Therapie geht, profitieren die Geschwister ohnehin. Nimmt die Angst ab, entsteht daheim wieder mehr Raum für den normalen Alltag.»
Anna und ihre beiden Schwestern nutzen diesen Alltagsraum im Moment effizient aus. Die Stube haben sie in eine Zirkusmanege verwandelt. Zu dritt üben sie Figuren, den Spagat und machen einen Turm: Eine balanciert auf der anderen. «Ich falle doch runter», hört man Clea zischen. «Nein», sagt Anna. «Ich halte dich.»
Wie meinte der Philosoph Sören Kierkegaard so schön: Wer gelernt hat, sich recht zu ängstigen, der hat das Höchste gelernt.
* Namen geändert
Die Angststörung erkennen
Nicht jede Angst ist eine Störung. Ängste sind wesentlich für eine normale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Wer die typischen Entwicklungsängste kennt, dem fällt es leichter zu erkennen, wann eine Angst das normale Mass übersteigt und fachliche Hilfe angezeigt ist.
Beispiele für typische Entwicklungsängste
0 – 2 Jahre: Angst vor unbekannten Personen, vor der Trennung von einer Bezugsperson, vor intensiven sensorischen Reizen wie lauten Geräuschen
3 – 6 Jahre: Angst vor Tieren, vor der Dunkelheit, vor Fantasiegestalten, vor Naturkatastrophen, vor Einbrechern, davor, allein gelassen zu werden
7 – 12 Jahre: Gesundheitsängste, Leistungsangst, Angst vor der Schule, vor dem Versagen, vor negativer Bewertung durch andere oder vor Ereignissen, die das Kind im Fernsehen oder in anderen Medien gesehen hat
13 – 18 Jahre: Angst vor Ablehnung durch Gleichaltrige, soziale Ängste
Diese Ängste sind zwar altersspezifisch, lassen sich aber nicht immer ganz genau dem Lebensalter zuordnen. Sie sind milde und vorübergehend. Behält das Kind die Angst bei, nimmt sie überhand und/oder beeinträchtigt sie den Alltag des Kindes und der Familie, ist es ratsam, eine Fachperson beizuziehen. Zu den häufigsten Angststörungen im Kindes- und Jugendalter gehören die Trennungsangststörung, Phobien, soziale Angststörungen und Prüfungsangst sowie die generalisierte Angststörung.
Folgende nicht ausschliessliche Symptome können bei diesen Angststörungen auftreten:
Trennungsangststörung: Kinder und Jugendliche zeigen bei der Trennung von ihrer Bezugsperson eine gereizte, aggressive oder apathische Stimmung. Sie haben Albträume von Trennungen. Sie vermeiden es, ohne die Bezugsperson zu Hause oder bei Freunden zu sein oder alleine im eigenen Bett zu übernachten sowie in den Kindergarten oder in die Schule zu gehen. Sie klagen häufig über Kopf- und Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen. Diese Symptome lassen nach, wenn die Bezugsperson in der Nähe ist.
Phobie: Kinder und Jugendliche zeigen eine unangemessen starke Angstreaktion gegenüber bestimmten Situationen oder Objekten, von denen keine akute reale Gefahr ausgeht (zum Beispiel vor Hunden oder vor dem Liftfahren).
Soziale Angststörung und Prüfungsangst: Sozialängstliche Kinder und Jugendliche sind stark gehemmt in sozialen Situationen. Sie werten sich selbst ab, sprechen oft wenig oder leise, melden sich nicht im Unterricht, leiden unter starken Prüfungsängsten oder gehen nicht zu Einladungen ihrer Schulkollegen. Die Angst zeigt sich körperlich unter anderem in Form von starkem Herzklopfen, Erröten oder Schwitzen.
Generalisierte Angststörung: Kinder und Jugendliche machen sich übermässig viele unkontrollierbare Sorgen, die mehrere Lebensbereiche betreffen. Typisch sind körperliche Symptome der Anspannung und Nervosität, der Wunsch nach Rückversicherung, Konzentrations- und Schlafprobleme, Müdigkeit, Reizbarkeit und ein negatives Selbstbild.
Während bei Kindern vor allem die Trennungsangststörung auftritt, nehmen im Teenageralter unter anderem die soziale Angststörung und die generalisierte Angststörung zu.
Therapien gegen die Angst
Die Kognitive Verhaltenstherapie und die Spieltherapie sind die am häufigsten angewandten Therapien – so funktionieren sie.
Die Kognitive Verhaltenstherapie gilt als die wirksamste Therapiemethode bei Angststörungen. Zwei wichtige Elemente sind die Exposition und die Habituation: Hat ein Kind Angst vor Hunden, bedeutet dies, dass das Kind stufenweise mit einem Hund in Kontakt gebracht wird – gedanklich, mit Bildern, Geräuschen oder real. Die Exposition verlangt bisweilen Einfallsreichtum von den Therapeuten, etwa bei der Angst vor dem Erbrechen, wie bei Elena, oder der Angst vor einer Guillotine, wie bei Mike. Das Kind bleibt schliesslich so lange in dieser Situation, bis es sich daran gewöhnt und die Angst absinkt. «Die Habituation ist die eigentliche Therapie», sagt Simone Munsch, Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Fribourg und Leiterin der psychotherapeutischen Praxisstelle. «Mit jedem Durchgang wird die Angst kleiner.» Das Kind wird mit positiven Verstärkern belohnt, etwa einem Aufkleber, wenn es das gewünschte Verhalten zeigt. In der Regel dauert eine Therapie zwischen 2 und 16 Sitzungen. «Es lohnt sich aber, zu warten, bis jemand soweit ist. Der grösste Fehler ist, in die Exposition zu gehen, bevor man nicht alles wirklich gut durchgesprochen hat und sich alle über das Vorgehen einig sind», warnt Simone Munsch.
In einer Spieltherapie, wie Elena sie besuchte, zeigt sich die Angst – und oft zuerst die Abwehr der Angst – im Spiel, wie Kinder- und Jugendpsychiater Thomas Koch erklärt. Sein Spieltherapiezimmer ist ein Paradies für Kinder: ein Sofa, unter dem man sich verstecken kann, eine Lampe mit Pilzhut, Barbies, Autos, Playmobil, Puppenstube, Stofftiere – selbst Spielzeugpistolen fehlen nicht. «Die führen hin und wieder zu Diskussionen mit den Eltern», sagt der Therapeut. Doch manchmal sind sie eben wichtig. Er denkt an einen 5-jährigen Buben, der weder reden noch sich von der Mutter trennen konnte, als er in den Kindergarten kam. «In der Therapie hatte er vorerst mal keine Angst», sagt Thomas Koch. «Er wehrte sie ab, indem er zu imponieren versuchte, Kämpfe veranstaltete und mich abknallte. Er zeigte zuerst die Abwehr – also wie er mit dieser Angst umgeht. Ein Jahr dauerte es, bis der Junge sicher war, dass die Beziehung hält. Dann zeigte er mir zum ersten Mal seine Angst und Hilflosigkeit. Von da an ging es langsam aufwärts.» Das Spiel begann sich zu verändern. Was vorher fragmentierte Elemente waren, wurde zu einer Geschichte mit einem roten Faden. Diese Veränderung beobachtet Thomas Koch häufig. Er passt sich dem Spiel an, interpretiert, kommentiert und schafft Verbindungen zu Gesagtem. «Ich fasse in Sprache, was geschieht. Und das Kind sieht, wie ich auf sein Spiel reagiere. So erhält es eine Theorie von sich und von anderen.»
Literatur und Links
Rafik Schami und Kathrin Schärer: «Hast du Angst?», fragte die Maus. Beltz 2017, ca. 20 Fr. Das Buch handelt von einer Maus, die nicht weiss, was Angst ist, und sich deshalb auf die Suche nach diesem wichtigen Gefühl macht. Geeignet für Kinder ab 4 Jahren.
Winona Michel, Hannah Buschkamp, Carlotta Drerup u. a.: Die kleine Eule Luna. Hogrefe 2018, ca. 40 Fr. Die kleine Eule Luna und das Glühwürmchen Sola zeigen von Trennungsangst betroffenen Kindern, wie sie damit umgehen können. Ein Buch für Kinder von 6 bis 12, Eltern, Pädagogen und Therapeuten.
Philip Streit: Ich will nicht in die Schule! Ängste verstehen und in Motivation verwandeln. Beltz 2016, ca. 18 Fr. Dieses Buch zeigt Eltern, wie sie ihr Kind dabei unter- stützen können, Gefühle in Worte zu fassen, Hindernisse zu überwinden und Ängste in Stärken zu verwandeln.
Vanessa Speck: Progressive Muskelentspannung für Kinder. Hogrefe 2018, 24 Fr. Die CD enthält Instruktionen zu drei Entspannungsübungen, die Kinder und Jugendliche selbständig oder trainingsbegleitend zu Hause durchführen können. Für Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren.
Dieter Gränicher: Im Sog der Angst (2018). Im Dokumentarfilm geben drei erwachsene Betroffene Einblick in ihr Leben mit Angst und berichten von ihren Erfahrungen. Die DVD ist über Pro Mente Sana erhältlich: Tel. 044 446 55 00
ist Journalistin und betreibt Gesprächsforschung. Ihr Fokus: Sprachbilder, Körperbilder, alles im und rund um den Menschen. Ihre Leidenschaften: Schreiben und Musik.