Die Kunst, Nein zu sagen, ohne zu verletzen oder zu kränken -
Merken
Drucken

Die Kunst, Nein zu sagen, ohne zu verletzen oder zu kränken

Lesedauer: 5 Minuten

Einst bekamen Kinder von ihren Eltern fast automatisch ein Nein zu hören, wenn sie einen Wunsch äusserten. Heute sagen Mütter und Väter oftmals Ja, auch wenn sie eigentlich Nein meinen. Dabei brauchen Kinder die authentische Rückmeldung ihrer Eltern.

Text: Jesper Juul
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Originaltitel «Nej, et kærligt svar – kunsten at sige nej uden at krænke eller såre», aus dem Dänischen übersetzt von Knut Krüger

Mit dem Nein verhält es sich wie mit Grenzen – es gibt keine, die per se richtig oder angemessen sind. Man kann keine Liste davon anfertigen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Alter ein Nein automatisch gerechtfertigt wäre.  Zwei Dinge lassen sich mit Sicherheit feststellen:

  • Die erste Antwort, die ein neugeborenes Kind hören, sehen und fühlen muss, ist ein riesiges Ja, das von ganzem Herzen kommt. Ein «Ja, du bist willkommen». Ein «Ja, ich werde für dich da sein». Während des ersten Lebensjahres des Kindes müssen die Eltern ihm ein ständiges Ja zukommen lassen. Ein Ja zu Hunger, Durst und Kontaktbedürfnis. Ein Ja zu Koliken, Mittelohrentzündungen und Schlafschwierigkeiten. Ein «Ja, wir öffnen dir unsere Herzen und bieten dir für alle Zeit einen sicheren Platz darin».
  • Wenn das Kind etwa achtzehn Monate alt ist, wird es Zeit, auch mal Nein zu sagen. Nicht nur im Interesse des Wohlergehens und der Entwicklung des Kindes, sondern ebenso sehr hinsichtlich der Qualität unserer Beziehung und unserer eigenen Bedürfnisse.

Kinder werden mit grosser Weisheit, doch ohne Erfahrung geboren. Kinder kommen als kompetente, vollwertige Menschen auf die Welt, doch fehlen ihnen zunächst zwei wichtige Kompetenzen: Sie sind nicht in der Lage, im umfassenden Sinne für sich selbst Sorge zu tragen, ehe wir dies zehn bis zwölf Jahre lang übernommen haben. Und sie können keine Verantwortung für die notwendige Qualität ihrer Beziehung zu den Erwachsenen übernehmen. Sie können signalisieren, wenn etwas mit dieser Beziehung nicht in Ordnung ist, doch sie können die Beziehung nicht ändern.

Grundbedürfnisse befriedigen

Dass sie nicht für sich selbst Sorge tragen können, zeigt sich darin, dass sie den Unterschied zwischen ihren momentanen Wünschen und ihren eigentlichen Bedürfnissen nicht kennen. Es ist die wichtigste Auf­gabe der Eltern, dafür zu sorgen, dass die Grundbedürfnisse ihrer Kinder nach Nahrung, Wärme, Sicherheit und sozialem Kontakt befriedigt werden.  Die zweitwichtigste Aufgabe besteht darin, den Kindern den Unterschied zwischen momentanen Wünschen und grundlegenden Bedürfnissen zu vermitteln. Nicht, indem sie langatmige Vorträge darüber halten, sondern indem sie ihren Kindern bestimmte Erfahrungen ermöglichen.

Die wichtigste dieser Erfahrungen lautet, dass die Welt nicht untergeht, wenn man nicht immer gleich bekommt, worauf man gerade Lust hat. Viele solcher Erlebnisse formen sich zu einer wichtigen Lebenserfahrung, die zu dem gehört, was auch soziale Kompetenz genannt wird und das Gegenteil von Egozentrik ist.

Der richtige Zeitpunkt für ein Nein ist dann gekommen, wenn wir zu uns selbst Ja sagen müssen.

Eltern in unserem reichen Teil der Welt stehen hierbei vor der Herausforderung, bei der Begründung für ein Nein auf die eigenen Gefühle, Haltungen und Wertvorstellungen angewiesen zu sein. Frühere Generationen konnten sich darauf beschränken, auf einen allgemeingültigen Kodex zu verweisen, was «man» tat oder nicht tat beziehungsweise, was sich mehr oder weniger «gehörte». Doch schon damals wiederholten die Eltern ihr Nein zehn bis zwanzig Mal, ehe sie mit zornbebender Stimme ausriefen: «Ich hab Nein gesagt und damit basta!»

Im Verhältnis zu unseren Kindern gilt dasselbe wie zu anderen Menschen auch: Der richtige Zeitpunkt für ein Nein ist dann gekommen, wenn wir zu uns selbst Ja sagen müssen. Wenn wir unsere eigenen Grenzen und Werte wahren müssen und ein Ja aus vollem Herzen nicht möglich ist.  Ein solches Nein hat die ausserordentliche Qualität, über «Wärme» zu verfügen – statt einer Abweisung ist es eine persönliche Rückmeldung, die sagt: So bin ich. In Langzeitbeziehungen zu Kindern, Partnern, Freunden und Angehörigen sind solche Rückmeldungen von unschätzbarem Wert. Die anderen wissen, mit wem sie es zu tun haben, und auch wir selbst lernen uns immer besser kennen.

Manche Mütter und Väter haben die un­glück­selige Angewohnheit entwickelt, auch dann Ja zu sagen, wenn sie eigentlich Nein meinen – so wollen sie Konflikte vermeiden oder ihr schlechtes Gewissen kompensieren, zu wenig Zeit und Energie für ihre Kinder aufzubringen. Entweder sagen sie sofort Ja oder sie bringen ihren Kindern bei, nur beharrlich genug sein zu müssen, damit ihre Eltern die Meinung ändern. 

Diese Angewohnheit ist leicht zu erklären, aber schwer zu entschuldigen, denn sie schadet der persönlichen wie der sozialen Entwicklung der Kinder. Ausserdem geht sie auf Kosten der persönlichen Integrität und Selbstachtung der Eltern und trägt dazu bei, in der Familie eine Kultur zu etablieren, in der man sich um des lieben Friedens willen anlügt oder manipuliert.

Negative Reaktionen zugestehen

Für die Kinder ist dies besonders gefährlich, da sie ein Minimum an Kontakt zu ihren Eltern brauchen, stattdessen aber nur das bekommen, worauf sie gerade Lust haben. Falls die Eltern ihre Partnerschaft auf denselben Prinzipien aufbauen, wird sie nicht lange Bestand haben. Manche werden sich jetzt fragen, wie es um die Konflikte bestellt ist, die ein wiederholtes Nein der Eltern zur Folge haben. Werden unsere Kinder nicht traurig werden und uns womöglich ablehnen?

Die Antwort auf die erste Frage lautet, dass Konflikte ein integraler Bestandteil jeder gleichwürdigen Beziehung sind und weder Kindern noch Eltern schaden. Die Antwort auf die zweite Frage lautet, dass Elternschaft nicht bedeutet, sich jederzeit beliebt zu machen. In der Kindererziehung geht es nicht darum, wie Kinder ihre Eltern in unterschiedlichen Situationen beurteilen, sondern darum, welche Beziehung sie langfristig zu sich selbst und anderen aufbauen. Und glauben Sie mir: Kinder, die aus falschen Gründen stets ein Ja zu hören bekommen, hassen am Ende sich selbst und sind nicht in der Lage, konstruktive Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.

Konflikte sind ein integraler Bestandteil jeder gleichwürdigen Beziehung und schaden weder Kindern noch Eltern.

Dass Kinder frustriert und traurig sind, wenn sie nicht das bekommen, was sie gerade wollen, ist eine gesunde und natürliche Reaktion. Eltern sollten ihnen diese Reaktion zugestehen, anstatt zu versuchen, sie herunterzuspielen oder zu kompensieren. Kinder, denen die Möglichkeit genommen wird, frustriert oder traurig zu sein, haben es schwer, ihre angeborene Fähigkeit zu Empathie und sozialer Kompetenz zu entwickeln. Wir können unsere Kinder nicht «verwöhnen», indem wir ihnen zu viel von dem geben, was sie brauchen. Sogenannte verwöhnte Kinder sind Kinder, die zu wenig von dem bekommen, was sie nötig haben, aber jede Menge davon, worauf sie gerade Lust haben, wodurch sich die Eltern allzu oft ihren Frieden erkaufen.

Es geht also darum, Nein zu sagen, um Ja zu sich selbst sagen zu können – zu den eigenen Gefühlen, Grenzen und Werten, den eigenen physischen und finanziellen Möglichkeiten. Und es geht darum, mit gutem Gewissen Nein zu sagen. Dasselbe müssen wir auch im Verhältnis zu anderen Menschen lernen, zu denen wir wichtige Beziehungen haben. Für viele von uns ist dies ein langer wechselseitiger Lernprozess. Unsere Partner werden dadurch ermutigt, sich selbst treu zu sein, und unsere Kinder lernen dadurch, guten Gewissens Eigenverantwortung zu übernehmen, wenn es sie in die grosse weite Welt hinauszieht.

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

Alle Artikel von Jesper Juul

Mehr zum Thema Grenzen setzen:

Erziehung
Wo Kinder sind, da ist es laut
Kinder schreien, lachen, toben – und nerven damit ihr Umfeld. Experten geben Tipps, wie Eltern mit dem hohen Lärmpegel umgehen können. 
Der innere Schiedsrichter
Lernen
Der innere Schiedsrichter weiss Rat
Was tun, wenn es in der Schule knallt? Diese Methoden helfen Lehrpersonen Konflikte zu lösen.
ESL Sprachcamps Frankreich England HG
Advertorial
Sprachcamps mit ESL – der beste Weg eine Sprache zu lernen
Jugendliche und Kinder haben die Chance, eine unvergessliche Erfahrung in den ESL Sommer-Sprachcamps im Ausland zu machen.
Erziehung
«Kinder akzeptieren ein Nein besser, wenn sie Fürsorge erkennen»
Psychologe Fabian Grolimund sagt, Eltern hätten nicht ­einfach die Aufgabe, Grenzen zu setzen, sondern ihre Kinder auch zu ermutigen, für sich selbst einzustehen.
Selbstfürsorge ist so wichtig
Erziehung
«Selbstfürsorge ist so wichtig!»
Anita Bucher* hat fünf Kinder und ist seit Kurzem alleinerziehend. Damit sie den Familienalltag meistern kann, muss sie klare ­Regeln setzen.
Grenzen setzen obwohl freiheitsliebend
Erziehung
«Ich muss Grenzen setzen, obwohl ich freiheitsliebend bin»
Sarah Farsatis ist vierfache Mutter und hat mit der Geburt ihrer Kinder gelernt, dass es wichtig ist, Regeln aufzustellen. 
Elternbildung
Trotzige Kinder haben trotzige Eltern
Kindliche Integrität, was heisst das? Jesper Juul über trotzige Eltern und warum ein klares Nein Kinder entlastet.
5 Konflikte und wie Eltern hier sinnvoll Grenzen setzen
Erziehung
5 Konflikte und wie Eltern hier sinnvoll Grenzen setzen
Psychologin Sarah Zanoni kommentiert 5 typische Konfliktsituationen und sagt, wie Väter und Mütter darauf reagieren können.
Wie Sie Kindern sinnvoll Grenzen setzen
Erziehung
Wie Sie Kindern sinnvoll Grenzen setzen
Wurden Kinder früher an die Gesellschaft angepasst, sollen sie heute selbstbestimmt aufwachsen. Auch in einer partnerschaftlichen Erziehung braucht es aber Regeln und Grenzen.
Grenzen setzen unser Thema im November
Redaktionsblog
Grenzen setzen: Unser Thema im November
Wie können wir dem Balanceakt zwischen elterlichen Ansprüchen und den kindlichen Bedürfnissen gerecht werden?
Medienerziehung
Wie wird mein Kind tolerant im Netz?
Soziale Medien sind Fluch und Segen. Sicher ist: Wenn wir Kindern Toleranz beibringen wollen, müssen wir uns selbst darin üben.
Familienleben
Wie unser Gehirn bei Stress reagiert
Unsere Gene und unsere Umwelt haben Einfluss darauf, wie wir in stressigen Situationen umgehen, sagt die Psychologin Nicole Strüber.
Familienleben
Wie bleibt man ruhig im Familienalltag?
Wie reagiert man gelassen, wenn der Familienalltag einen mal wieder an seine Grenzen bringt? Leider ist die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen, nicht ­angeboren. Die gute Nachricht: Sie kann erlernt werden, sagen Experten.
Familienleben
Die besten Apps zum Abschalten
Wie kommt man zur Ruhe, wenn rundherum das Chaos tobt? 7 Apps und Tipps, wie man zu mehr Gelassenheit im Familienalltag kommt.
Elternbildung
Aggressionen sind gesund
Die Art, wie wir mit Aggressionen umgehen, ist zentral für unser psychisches Wohlbefinden, sagt Jesper Juul.
Selbstvertrauen: Wie Kinder ihren Weg im Leben finden
Familienleben
Wurzeln und Flügel: Wie Kinder ihren Weg im Leben finden
Damit Kinder ihren Weg im Leben finden, müssen sie Selbstvertrauen entwickeln und sich als selbstwirksam erfahren. Ob das gelingt, hängt vom Verhalten ihrer Eltern ab.
Fabian Grolimund Kolumnist
Elternbildung
Vom Umgang mit Respekt, Grenzen und Regeln
Das Thema «Grenzen setzen» erlebt unser Kolumnist als eine der grössten Herausforderungen im Umgang mit Kindern. Fabian Grolimund gibt Tipps für den Alltag.
Elternbildung
Schluss mit starren Rollen – zuhören!
Schluss mit starren Rollen: Unser Kolumnist ruft Eltern auf, zuzuhören statt zu schauspielern. Denn ein echter Dialog kann auch helfen, Grenzen zu setzen.
Spiel mit Grenzen Swisscom
Medien
Sind Videogames für Kinder besser als ihr Ruf?
Spiel mit Grenzen: Gut dosiert sind Videogames für Kinder womöglich besser als ihr Ruf.
Wie Eltern in der Erziehung ein Team bilden.
Familienleben
Vater, Mutter, Eltern sein
Wie Familie gelingt. So funktionieren Eltern als Team, auch wenn sie sich in der Erziehung nicht immer einig sind.
Exklusiv-Interview mit Jesper Juul Teil 2
Elternbildung
In Erinnerung an Jesper Juul: Das grosse Interview (Teil 2)
Jesper Juul über seine Träume und Wünsche für Eltern und seine Erkenntnis, dass Erziehung nicht funktioniert.
Wenn Kinder Eltern verfluchen
Familienleben
«Mama ich hasse dich!»
Böse Worte sind zuweilen schwer zu verdauen – aber kein Grund zur Beunruhigung. Tipps für Eltern zum Umgang mit Beschimpfungen von Kindern.