Dauernde Sorge ist Gift für das Kind - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Dauernde Sorge ist Gift für das Kind

Lesedauer: 3 Minuten

Kinder müssen lernen, Hindernisse zu überwinden – auch wenn dies mit Schmerzen verbunden ist.

Als Mutter ist es mir wichtig, dass unsere drei Kinder erfahren, wie sich Schmerz und
Trauer
anfühlen. Ich akzeptiere, dass sie phasenweise unglücklich sind oder auch mal weinen.
So ist das Leben. Ich tröste sie dann und kümmere mich wenn nötig um die Wunde. In meinem Umfeld beobachte ich allerdings oft, dass Kinder ängstlich sind und zuerst überprüfen, was ihre Eltern denken, bevor sie sich selbst etwas trauen. Als ob sie wissen wollten, wie ihre Eltern in diesem Moment funktionieren.

«Die Zeitungen sind voll von Unfällen und schrecklichen Ereignissen. Ist es da ein Wunder, dass sich viele fürchten?»

Eine Leserin, die Jesper Juul um Rat fragt.

Viele Eltern trösten ihr Kind so schnell, dass es die Situation nicht richtig erleben kann. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass viele Eltern die Trauer ihrer Kinder nicht aushalten können. Ich erlebe Eltern, die ihren Kindern verbieten, auf Bäume zu klettern oder schnell zu rennen. Aus Angst, es könnte etwas passieren. Die Zeitungen sind voll von Unfällen und schrecklichen Ereignissen. Ist es da ein Wunder, dass sich viele fürchten? Ich weiss, dass
sich Kinder ernsthaft und schwer verletzen können. Aber muss nicht ich entscheiden, wieviel ich ihnen zutraue? Ich kann ja nicht dauernd vor ihnen herlaufen und alles Gefährliche aus dem Weg räumen – oder hinter ihnen hergehen, um zu überprüfen, ob sie Angst haben.
Ich bin mir sicher, dass sie merken, ob sie sich einer Situation gewachsen fühlen und etwas nicht tun, wenn sie es sich nicht zutrauen. Und auch umgekehrt bin ich zuversichtlich,
dass ihnen gelingt, was sie tun. Wie denken Sie darüber?

Jesper Juul antwortet:

Es ist in der Tat so, dass wir nicht verhindern können, dass die Kinder Schmerzen erleiden – und wir sollten dies auch nicht tun. Die Sorge um die Kinder soll eine angemessene Mischung aus Liebe und Fürsorge sein. Sie haben völlig recht mit Ihrer Beobachtung, dass Ein- bis Vierjährige mit der Einstellung, den Gefühlen und Reaktionen ihrer Eltern kooperieren. Sie beobachten und spiegeln die Reaktionen der Eltern.

Das beginnt schon zu Hause im Wohnzimmer, wenn beim Fangenspielen ein Kind zu schnell um die Ecke kommt und mit dem anderen zusammenstösst. Wenn sie von ihren Eltern dazu einen einfachen und nüchternen Kommentar erhalten, erheben sie sich schnell wieder
und alles ist okay. Reagieren die Erwachsenen mit Entsetzen, Angst, Sorge oder Ähnlichem, beginnen die Kinder zu weinen. 

Wir fragten das Kind, ob es
Angst habe, ins Wasser zu gehen.
«Nein», sagte es. «Aber ich
denke gerade darüber nach, was
meine Mama sagen würde.»

Ich erinnere mich an ein achtjähriges Mädchen auf einem Schulausflug ans Meer. Sie stand lange und unschlüssig am Strand, während sich die anderen Kinder bereits im Wasser tummelten. Als wir sie fragten, ob sie denn Angst vor dem Wasser habe, sagte sie nur: «Nein, aber ich denke gerade darüber nach, was meine Mama sagen würde.» Dauernde Sorge und übermässige Angst sind pures Gift für Kinder – für deren Selbstwahrnehmung und Selbstvertrauen. Fahrradhelme oder das Sicherheitsnetz um ein Trampolin sind wichtige Erfindungen, um Kopf oder Rückenverletzungen zu verhindern. Eine 30 Zentimeter dicke Gummimatte unter einer Schaukel auf dem Spielplatz dient jedoch ausschliesslich Eltern oder Institutionen als Absicherung.

Das Leben ist nicht schmerzfrei

In unserer Kultur gibt es die Tendenz zu glauben, dass das Leben schmerzfrei sein soll. Ein Trend, der unseren Kindern die Möglichkeit nimmt, von ihren eigenen, überraschenden
Erfahrungen zu lernen, Hindernisse – oft schmerzvoll – zu überwinden und die Folgen ihres Handelns zu begreifen. Dieser Trend orientiert sich nicht daran, was gut und gesund für
unsere Kinder ist. Er widerspiegelt nur den Narzissmus der Erwachsenen – dient also den Eltern für ihr eigenes Selbstbild als Eltern, das sich nicht über die Kindererlebens-
Kompetenz definiert. Gleichzeitig ist es auch traurig für die Erwachsenen selbst, wenn die Freude und Aufregung der Kinder über Experimente von Sorge und Angst verdrängt wird.

Kindgerechte Vor-«Sorge»

Kinder sind, wie wir wissen, sehr unterschiedlich. Manche scheinen ein wenig aufmerksamer und vorsichtiger geboren zu sein. Sie bereiten sich auch geistig schon sehr sorgfältig
auf die nächste Phase ihrer Entwicklung vor. Andere preschen ohne Rücksicht auf Verluste nach vorne und können nur von ihren konkreten Erfahrungen lernen. Beide Extreme sind, wie sie sind, und Eltern sollten sich nicht wünschen, dass ihre Kinder anders sind. Deshalb
ist es wichtig, dass Eltern und andere Erwachsene sich bewusst werden, wie sie genau dieses Kind am besten in seiner Entwicklung unterstützen können. Niemand kann eine exakte Antwort auf die Frage geben, wann genau Eltern eingreifen sollten. Eine guter Leitfaden ist aber die Frage: «Tue ich das, weil es meinem Kind zugutekommt, oder tue ich es, um mich selber zu beruhigen oder zu trösten?»

Zum Autor:

Jesper Juul ist Familientherapeut und Autor zahlreicher internationaler Bestseller zum Thema Erziehung und Familien. 1948 in Dänemark geboren, fuhr er nach dem Schulabschluss zur See, war später Betonarbeiter, Tellerwäscher und Barkeeper. Nach der Lehrerausbildung arbeitete er als Heimerzieher und Sozialarbeiter und bildete sich in den Niederlanden und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Seit 2012 leidet Juul an einer Entzündung der Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im Rollstuhl. Jesper Juul hat einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter Ehe geschieden.

Jesper Juul: Exklusiv im Dezember 2017