Wann geht ein Geschwisterstreit zu weit? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wann geht ein Geschwisterstreit zu weit?

Lesedauer: 8 Minuten

Madleina Brunner Thiam leitet Kurse mit Kindern zum Thema Geschwisterstreit. Sie sagt: Das Thema wird von Eltern unterschätzt. Die Jugendarbeiterin über die häufigsten Streitthemen und darüber, warum Eltern bei Geschwisterstreit Präsenz zeigen sollten.

Wer auf dem Gelände der evangelisch-reformierten Kirche Thalwil auf der Suche nach NCBI ist, wundert sich. «Doch, doch, Sie sind hier richtig», begrüsst mich Madleina Brunner Thiam, Sozialarbeiterin und Projektleiterin beim National Coalition Building Institute Schweiz, «die Gemeinde vermietet uns Büroräume.» Es sind wenige Quadratmeter, mehr Platz brauche es für ihre Arbeit nicht. Denn mit dem Projekt «Bis jemand weint …» geht die Sozialarbeiterin raus aus dem Büro und rein in die Schulen. Für das Gespräch nehmen wir in der Cafeteria des Gemeindehauses Platz.

Frau Brunner Thiam, worüber streiten Geschwister am meisten? 

Geschwister können sich um fast alles streiten, aber ganz oben auf der Liste stehen mit Sicherheit die neuen Medien: Wer darf als Erstes mit dem iPad spielen und wie lange? Und wer entscheidet, welches Computerspiel gespielt wird? Oft wird das iPad oder das Smartphone auch als Druck­mittel eingesetzt: «Wenn ichs Mama sage, hast du Handyverbot!» Jüngere Kinder streiten eher um das begehr­te Spielzeug oder darum, wer bei Mama beim Vorlesen auf dem Schoss sitzen darf und so weiter.

Solche «Nahkampfszenen» kennen alle Eltern. Studien zufolge streiten Kinder im Schnitt alle 20 Minuten. Das sei völlig normal, sagen Experten. 

Wenn ich in eine Schulklasse gehe und frage, wer schon einmal Gewalt ausgeübt hat, melden sich Kinder nicht gerne. Insbesondere Mädchen wollen keine Täterinnen sein. Frage ich dann, wer seinem Geschwister im Streit schon einmal wehgetan hat, schnellen die Finger nach oben. Das sei doch normal. Demnach haben Sie recht: Geschwisterstreit wird zu oft für normal gehalten und meiner Meinung nach banalisiert.
Zur Person: Madleina Brunner Thiam ist Sozial­arbeiterin FH (ZHAW), Jugendarbeiterin und Projektkoordinatorin der Jugendprojekte des National Coalition Building Institute (NCBI) Schweiz zum Thema «Häusliche Gewalt». Sie lebt mit ihrer Familie in Wald im Kanton Zürich.
Zur Person: Madleina Brunner Thiam ist Sozial­arbeiterin FH (ZHAW), Jugendarbeiterin und Projektkoordinatorin der Jugendprojekte des National Coalition Building Institute (NCBI) Schweiz zum Thema «Häusliche Gewalt». Sie lebt mit ihrer Familie in Wald im Kanton Zürich.

Im Projekt «Bis jemand weint …» leistet NCBI Schweiz an Schulen Präventionsarbeit in Sachen Geschwisterstreit. Das ist hierzulande einmalig. Wie gehen Sie vor?

Wir verbringen zum Projektstart in der Regel einen Vormittag mit der Schulklasse. Nach einer ersten Ein­führung ins Thema stellen wir unser «Thermometer» vor . Das ist ein Instrument, mit dem abgebildet werden kann, wie ein Streit Schritt für Schritt eskaliert. In kleinen Gruppen bilden Schülerin­nen und Schüler damit typische Streitereien aus ihrer Familie ab, um miteinander und mit unserer Hilfe Strategien zu erarbeiten, um einen Streit in seinem Verlauf zu deeskalieren.

Was könnte solch eine Strategie sein?

Beispielsweise nachzufragen, was der Bruder oder die Schwester mit seiner Aussage meint, anstatt mit einer weiteren Beschimpfung zu antworten, sprich in seiner Kommunikation mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen zu setzen. Oder die Situation auch einmal mit den Augen des Anderen zu sehen: Wie fühlt sich das für meine kleine Schwester an, wenn wir uns ständig darum streiten, wer das gemeinsame Zimmer aufräumen muss? Die Kinder und Jugendlichen sollen erkennen, in welchen Themen sie mit ihren Geschwistern nicht mehr weiterkommen und an welcher Stelle der Streit immer zu weit geht, um dann zu schauen, welche Alternativen sie haben. Diese Ideen müssen aber von den Kindern kommen. Von den Eltern vorgesagt, funktioniert das nicht.

Online-Dossier Geschwister

Lesen Sie in unserem
Lesen Sie in unserem Dossier, ob Geschwister wichtig für die Entwicklung eines Kindes sind, fünf Mythen über Geschwister und wie man mit dauerndem Streit zwischen Bruder und Schwester umgehen kann.


Keine einfache Aufgabe für Kinder.

Das stimmt, für diese Reflektion braucht es eine gewisse Reife. Daher sind unsere Workshops auch für Kinder ab der 3. Klasse konzipiert.  

«Geschwisterstreit wird zu oft für normal gehalten und banalisiert.»

Jugendarbeiterin Madleina Brunner Thiam.

Aber Geschwisterstreitigkeiten haben doch auch positive Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes.

Natürlich. Viele Kinder üben sich mithilfe ihrer Geschwister in ihrer Fähigkeit, Konflikte zu lösen und können dies als Ressource im späteren Leben nutzen. Wenn Kinder merken, dass sie verschiedene Alternativen haben, einen Streit zu lösen, können sie das auf andere Situationen adaptieren. Und ich habe noch nie ein Kind sagen hören: «Ich hasse meinen Bruder oder meine Schwester.» Ausser vielleicht im Streit.

Und was sagen diese Kinder über ihre Eltern?

Etwa 90 Prozent der teilnehmenden Kinder finden, dass ihre Eltern bei einem Streit nicht gut reagieren.

Weshalb reagieren Eltern in den Augen der Kinder bei einem Streit oft negativ?

Oft schreiten Eltern ein, weil ihnen der Konflikt zu laut oder zu viel wird. Sie empfinden das Verhalten der Kinder als störend. Für diese besteht aber vielleicht noch gar kein Handlungsbedarf oder sie haben das Gefühl, dass sie das Problem selbst lösen können. Den Eltern geht es oft darum, dass Ruhe einkehrt. So wird der Schuldige benannt und die Kinder werden auf ihr Zimmer geschickt. Geschwisterstreit ist ein Störfaktor, der rasch beseitigt werden soll.

Was schlagen Sie vor?

Eltern sollten zusammen mit den Kindern den Streit aufarbeiten. Dabei kann das Streit-Thermometer helfen: Womit hat der Streit angefangen und was steht dahinter? Natürlich ist es wichtig zu sagen, dass es im Streit Grenzen gibt, die nicht überschritten werden dürfen, wie zum Beispiel Schlagen. Aber Eltern sollten von Schuldzuweisungen absehen, ansonsten können sich gewisse Mechanismen etablieren.

Wie: Die kleine Schwester provoziert gekonnt den grossen Bruder, der daraufhin zuschlägt – sichtbar ist aber immer nur der Ausraster des Grossen?

Zum Beispiel. Es geht nicht darum, Täter und Opfer zu benennen, sondern seinen Kindern dabei zu helfen, aus dieser Streitspirale herauszukommen. Schliesslich gibt es einen Konflikt, weil sich zwei nicht einig sind. Als Opfer fühlen sich dabei beide.
Madleina Brunner Thiam ist Mutter zweier Kinder. Zur Zeit des Interviews war sie mit dem dritten Kind schwanger.
Madleina Brunner Thiam ist Mutter zweier Kinder. Zur Zeit des Interviews war sie mit dem dritten Kind schwanger.

Aber es gibt doch tatsächlich die Fälle, in denen immer einer anfängt. Wie geht man als Mutter oder Vater mit so einer Situation um?

Es wäre wichtig herauszufinden, was das Anliegen eines Kindes ist, das immer wieder mit einem bestimmten Streit oder einer Provokation beginnt. Sich nicht gerecht behandelt fühlen, gelangweilt sein, Eifersucht … Was steckt dahinter? Ein Gespräch kann helfen – nicht, wenn gerade eine Provokation passiert ist, sondern in einem guten Moment, in dem das betroffene Kind sich öffnen kann und sich nicht wehren muss.

Einige Experten raten Eltern, sich aus dem Streit komplett herauszuhalten und beispielsweise den Raum zu verlassen, wenn es ihnen zu viel wird. Das ist aber nicht so einfach.

Das würde ich auch nicht empfehlen. Mit meiner Anwesenheit setze ich auch ein Zeichen: «Ich interessiere mich für eure Anliegen.» Man kann doch dabeibleiben und erst einmal abwarten oder nach dem Streit fragen: «Soll ich das nächste Mal etwas sagen oder kommt ihr selbst aus dem Streit heraus?» Es empfiehlt sich aber, auch sich selbst als Mutter oder Vater zu beobachten: Stört mich dieser Konflikt, weil ich selbst gestresst bin? Dann verlasse ich wirklich besser das Zimmer.

Gibt es auch Situationen, in denen Streit eindeutig zu weit geht?

Wir als Erwachsene würden wahrscheinlich sagen, dann, wenn Verletzungen im Spiel sind oder am Ende immer der gleiche weint. Wenn ein Streit immer destruktiv ist, sich der immer Gleiche Teufelskreis abspielt, kann es sein, dass ein Kind aufgibt, aus dem Gefühl heraus, dass es nichts bewirken kann. Oder weil es am Ende eh immer der Böse ist und als Täter bestraft wird. Wenn ein Kind aufhört sich zu wehren, sollten die Eltern das als ein wichtiges Signal wahrnehmen.

 «Es gibt Kinder, die können nicht mehr schlafen, weil sie sich über den ständigen Streit so viele Gedanken machen.

Madleina Brunner Thiam, Jugendarbeiterin.

Welche Verhaltensweisen zeigt ein Kind, dem es so ergeht?

Das kann sich ganz unterschiedlich ausdrücken. Manche Kinder werden sehr ruhig, ziehen sich in sich zurück, andere werden aggressiv und suchen sich auf dem Pausenplatz den nächst Schwächeren, an dem sie ihren Frust auslassen können. Grundsätzlich kann man sagen, dass es für die kindliche Entwicklung nicht förderlich ist, wenn ein Kind sich zu Hause nicht sicher fühlt. Es muss dort zur Ruhe kommen, Hausaufgaben machen können. Es gibt Kinder, die können nicht mehr schlafen, weil sie sich über den ständigen Streit so viele Gedanken machen. Das wird oft unterschätzt.

Was sind das für Gedanken?

Auf der einen Seite gehen einem Dinge durch den Kopf, die man gesagt hat und die verletzend waren für den anderen, den man ja eigentlich gern hat. Und es gibt diejenigen Kinder, die Angst haben vor Streitereien. Sie sind harmoniebedürftiger als ihre Geschwister und kommen nicht damit klar, wenn diese immer wieder alles ausdiskutieren wollen. 

Kann ein solches Kind in seiner Entwicklung Schaden nehmen? 

Studien deuten darauf hin. Man sieht bei Erwachsenenbefragungen, dass viele Zwänge auf frühere Geschwisterstreitigkeiten zurückzuführen sind. Das hat viel mit dem Verhalten der Eltern zu tun.

Wie meinen Sie das?

Viele Rollen wie «die Verantwortungsvolle», «der Unzuverlässige», «die Ruhige», «der Laute» sind von den Eltern vergeben worden. Ich habe Erfahrungsberichte von Menschen gehört, die sagen, dass sie sich heute immer noch für alles verantwortlich fühlen, was nicht gut läuft. 
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Führt diese Rollenzuteilung zwangsläufig zu Streit?

Nein, nicht zwingend, aber man muss sich als Eltern bewusst sein, dass man seinen Kindern bestimmte Charaktereigenschaften zuschreibt. Und die Geschwister sollten sich das auch bewusst machen. Nach dem Motto: «Das ist jetzt seine Rolle, die mit mir streitet, und nicht die Person selber.» Lernen am Modell ist natürlich ein grosses Thema. Kinder, deren Eltern viel streiten, zeigen oftmals ein ähnliches Verhalten. Und in Familien, in denen viel befohlen wird, wird dieser Umgangston weitergegeben unter den Kindern. Es lohnt sich, gerade kleinere Kinder beim Rollenspiel zu beobachten – darin spiegelt sich das Verhalten von uns Eltern wider. 

Was kann ich als Mutter oder Vater tun, wenn ich das Gefühl habe, dass eines meiner Kinder unter den ständigen Streitereien leidet?

Ich finde es wichtig, in solch einem Fall auch mit den Lehrpersonen und dem oder der Schulsozialarbeiten­den darüber zu sprechen, um erfahren zu können, wie es dem Kind ausserhalb der eigenen vier Wände geht. Auch Lehrpersonen sind froh um solche Informationen. Ausser­ dem gibt es gute Hilfsangebote wie den Elternnotruf oder Beratungsan­gebote der Städte und Gemeinden. 

Welche Möglichkeiten haben Eltern, das Geschwisterverhältnis zu stärken?

Als ich mit dem zweiten Kind schwanger wurde, haben wir mit unserer Tochter einen Geschwister­kurs belegt. Dort hat die Hebamme gesagt: «Stellen Sie sich vor, Ihr Mann kommt mit einer zweiten Frau nach Hause, die er ab sofort genauso liebt wie Sie selbst. Bei der Ehefrau versteht man sofort, dass sie wütend reagiert. Von einem Kind erwartet man, dass es sich freut.» Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich ist es wichtig, das Kind frühzeitig in die Betreuung und Pflege des neuen Familienmitgliedes miteinzube­ziehen. Aber es ist auch wichtig zu akzeptieren, wenn es das nicht möchte. Und auf noch etwas sollten Eltern achten: Viele Kinder haben das Bedürfnis nach ungeteilter Auf­merksamkeit der Eltern. Und sie haben auch ein Recht darauf, diese von Zeit zu Zeit zu bekommen. Das heisst, dass man manchmal auch mit einem Kind allein etwas unterneh­men sollte.
Madleina Brunner Thiam, sprach mit Evelin Hartmann, der stellvertrentenden Chefredaktorin von Fritz+Fränzi, über Geschwisterstreitigkeiten.
Madleina Brunner Thiam, sprach mit Evelin Hartmann, der stellvertrentenden Chefredaktorin von Fritz+Fränzi, über Geschwisterstreitigkeiten.

Hilft es auch, Geschwister, die viel und erbittert streiten, räumlich zu trennen, sprich jedem sein eigenes Zimmer einzurichten?

Ja, das kann sinnvoll sein, wenn man die Möglichkeit dazu hat.

Sollte man nicht vielmehr bewusst Dinge unternehmen, bei denen die Geschwister zusammen sind?

Ich finde es schwierig, wenn man – um ihre Beziehung zu stärken – die Kinder zum Zusammensein ver­dammt. Die Kinder wollen das viel­leicht gar nicht. Trotzdem sollte man als Eltern den Kindern einen Raum bieten, in dem sie viele gemeinsame Erfahrungen machen können – aber ganz ungezwungen und ohne Druck.

Das Streit-Thermometer

«Bis jemand weint …» ist eines von vier Projekten der Reihe «zu Hause ohne Angst» (www.zuhauseohneangst.ch), entwickelt und durchgeführt von NCBI Schweiz. Im Rahmen dieses Projekts ist das Streit-Thermometer entwickelt worden, ein Hilfsmittel, um zu veranschaulichen, wie sich ein Konflikt entwickelt. Das Thermometer reicht von 0 bis 100 Grad. Ein Streit beginnt meistens sehr klein mit einer Aussage oder einer Geste. Ein Beispiel: Stefan schaut einen Trickfilm. Boris kommt und sagt: «Das ist doof, schauen wir Sport.» Stefan: «Nein, ich möchte das bis zum Schluss schauen.» Häufig folgt darauf eine Reaktion, welche den Streit erhitzt (zurückgeben). Boris provoziert: «Du schaust immer so kindische Sachen.» Er schaltet auf ein Fussballspiel um … So geht es weiter, bis der Streit eskaliert (100 °C).

Das Streit-Thermometer kann auch verwendet werden, um sich zu überlegen, wie ein Streit abgekühlt oder unterbrochen werden kann. Boris: «Wie lange dauert dieser Trickfilm noch? Ich habe mich sehr auf das Spiel gefreut. Was wäre eine gute Lösung?» Stefan: «Bist du einverstanden, wenn wir während der Pause auf das Spiel umschalten?» Man merkt, je «kühler» der Streit ist, desto einfacher ist es, sich anders zu verhalten, und je höher man in der Skala kommt, umso schwieriger wird es, den Streit zu unterbrechen oder gar abzukühlen.

Auf www.bisjemandweint.ch werden unter der Rubrik «Thermometer» insgesamt zehn verschiedene Streitereien unter Geschwistern als Thermometer dargestellt.


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