André Stern, darf man Kindern keinerlei Grenzen setzen? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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André Stern, darf man Kindern keinerlei Grenzen setzen?

Lesedauer: 9 Minuten

Kinder können sich das nötige Wissen für das Leben aus sich selbst heraus aneignen, sagt André Stern. Der Freilerner über den Wert des freien Spiels, Motivation durch Begeisterung und warum es eine neue Haltung gegenüber unseren Kindern braucht. 

Rund 480 Plätze bietet der Saal im Maihof in Luzern. Wer keinen freien Platz gefunden hat, steht am Rand, hockt, sitzt auf dem kalten Stein­boden. Auf der Bühne steht ein Mann, die langen Haare im Nacken zusammengebunden, weisses Hemd, Sakko, karierter Schal. André Stern breitet die Arme aus, steigt die wenigen Stufen zum Zuschauerraum immer wieder rauf und runter, kniet sich vor Zuschauer, steht wieder auf – und fast nie still. Währenddessen erzählt er von seinen Erfahrungen als Kind, das sich all das nötige Wissen überall angeeignet hat, nur nicht in der Schule. Die hat er nie besucht, ebenso wenig wie seine Söhne es heute tun. André Stern referiert über den Wert der kindlichen Begeisterung, des freien Spiels, darüber, dass schon alles gut kommt, wenn Eltern ihre Kinder sich frei entfalten lassen, ihnen auf Augenhöhe begegnen – ja, sie in gewisser Weise nicht wie Kinder behandeln. Nein, das bestehende Schulsystem kritisieren oder gar abschaffen wolle er nicht, nur sich und seine eigenen Kinder dafür ins Feld führen, dass es auch anders laufen kann. Mit dieser Botschaft füllt der Buchautor («… und ich war nie in der Schule. Geschichten eines glücklichen Kindes») und Musiker immer wieder Vortragssäle in Frankreich, Österreich, Deutschland und der Schweiz.

Vor seinem Vortrag im Luzerner Maihof hat sich André Stern die Zeit für ein Gespräch mit uns genommen.

Herr Stern, Sie wirken sehr im Reinen mit sich. Was haben Ihre Eltern richtig gemacht?

Ich wurde nicht erzogen in Kategorien wie richtig oder falsch, gut oder schlecht zu denken. So funktioniere ich nicht. Ich habe mich nie mit anderen verglichen. Und das – da haben Sie recht – verdanke ich meinen Eltern.
André Stern ist 1971 in Paris geboren und aufgewachsen, er ist Sohn des Forschers und Malort-Gründers Arno Stern. Stern ist Musiker, Autor und Vortragsredner, er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen (8 und 2) in Poitiers, südwestlich von Paris.
André Stern ist 1971 in Paris geboren und aufgewachsen, er ist Sohn des Forschers und Malort-Gründers Arno Stern. Stern ist Musiker, Autor und Vortragsredner, er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen (8 und 2) in Poitiers, südwestlich von Paris.

Inwiefern?

Das Problem ist, dass Menschen, sobald es um Kinder geht, von ihren eigenen Erfahrungen ausgehen: Was habe ich selbst mit meinen Eltern erlebt? Wie sind sie mit mir umgegangen? Oder sich an Modellen und Konzepten von sogenannten Erziehungsexperten orientieren.

Ihre Eltern haben das nicht getan?

Nein, sie sind von uns Kindern ausgegangen.

Das heisst?

Sie haben sich die Frage gestellt: Wonach sucht das Kind? Welches sind seine ganz eigenen Bedürfnisse? Sie haben meine Schwester und mich beispielsweise nicht zur Schule geschickt, weil sie in ihrer eigenen Schulzeit gelitten hätten. Sie haben sich viel mehr für die Bedürfnisse, die Veranlagungen und den Rhythmus ihrer Kinder entschieden – demzufolge nicht gegen, sondern für etwas.

Sie betonen immer wieder, dass Sie niemanden für eine bestimmte Erziehungsmethode gewinnen wollen. Trotzdem haben Sie doch eine Botschaft?

Ich denke, es braucht eine neue Haltung gegenüber Kindern. Jeder Mensch kommt mit denselben Veranlagungen und Grundbedürfnissen zur Welt. Wir alle wünschen uns Liebe und Verbundenheit, Nahrung für alle Sinne und die Möglichkeit zur Entfaltung unserer Potenziale bei gleichzeitiger Autonomie. Wir bringen dafür optimale Fähigkeiten mit, wie Begeisterung und Offenheit für lebenslanges Spielen, Lernen und Entdecken. 

Sie sprechen in Ihren Büchern von der Ökologie der Kindheit. Was meinen Sie damit?

Die Ökologie der Kindheit ist im Grunde der Versuch, diese neue Haltung dem Kind gegenüber in einem Begriff zusammenzufassen – eine Haltung, die auf Achtsamkeit und Vertrauen beruht. Und bevor Sie fragen: Die eine richtige Haltung gibt es nicht. Die meiner Eltern habe ich schon beschrieben. Sie sind nicht von sich, sondern von uns Kindern ausgegangen, was dazu geführt hat, dass ich mich mein Leben lang meinen Veranlagungen widmen konnte. Und, was ganz wichtig ist, man hat mein Spiel nicht unterbrochen und vor allem ernst genommen.

Welche Bedeutung hat das kindliche Spiel?

Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass wir uns etwas viel leichter merken können, wenn es uns berührt. Es gilt also, den Taumel der Kinder von einer Begeisterung zur nächsten auf keinen Fall zu zerstören. Im Spiel ist die Begeisterung immer da, und nicht nur das: Kinder sind im Spielen unglaublich ausdauernd und konzentriert. Das Kind hat noch keine schlechten Erfahrungen mit etwas Neuem gemacht. In der Beziehung zwischen Eltern und ihrem Kind geht es nicht darum, das Kind zu etwas heranzuziehen, es geht viel mehr darum, dem Kind keine Steine in den Weg zu legen. Das, was ich erlebt habe, würde jedes Kind erleben. 

Wenn es nicht zur Schule gehen würde?

Wenn es sich frei entfalten dürfte.

Man darf Kindern also keinerlei Grenzen setzen?

Ich würde nicht von Grenzen sprechen. Ich denke aber, dass man seinen Kindern eine Orientierung geben sollte. Eine Grenze ist Machtausübung, eine Orientierung kann ein Anhaltspunkt fürs Zusammenleben sein. Das ist eine andere Haltung. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, wenn man mit einem Kind anders umgeht und kommuniziert als mit dem eigenen Partner – zum Beispiel, wenn es nicht sauber isst. Sie sagen Ihrem Mann auch nicht: Iss sauber, sonst gehst du auf dein Zimmer! Wenn Sie es Ihrem Mann nicht sagen, gibt es keinen Grund, dass Sie es Ihrem Kind sagen sollten. Mit dieser Haltung kann sich das Kind weiterhin als das sehen, als das es zur Welt gekommen ist: als die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Und wir Erwachsene sehen es nicht als diese Person?

Jahrhundertelang gingen wir davon aus, dass das Kind quasi als Null auf die Welt kommt, als Point Zero der Entwicklung. Die Erwachsenen sind die voll entwickelte Plusversion. Und die Erziehung durch Eltern, Lehrer macht das Kind mit den Jahren zu einem lebensfähigen Erwachsenen. Dementsprechend haben wir uns den Kindern gegenüber positioniert.

(André Stern steht auf, stellt sich mit verschränkten Armen dicht vor mich und schaut auf mich herab.)


Na, wie fühlt sich das an? Ich übe meine Macht aus und sage Ihnen, was Sie brauchen … Irgendwie unangenehm, oder?

(Er lacht und setzt sich wieder hin.) 

 André Stern vor seinem Vortrag im Luzerner Maihof. An diesem Abend spricht er vor knapp 500 Menschen.
 André Stern vor seinem Vortrag im Luzerner Maihof. An diesem Abend spricht er vor knapp 500 Menschen.
Wenn ich in einem Vortrag sagen würde: Kinder brauchen Grenzen, hätte ich 500 Menschen im Saal, die mehr oder weniger zustimmen würden. Doch um zu demonstrieren, wie obsolet diese Haltung ist, bräuchte ich nur das Wort «Kinder» durch «Frauen» zu ersetzen. Und schon käme ich weniger gut an.

Aber bei Kindern ist das akzeptiert?

Wir nehmen Kinder nicht ernst, wir nehmen ihr Spielen nicht ernst. Wir nehmen sie als Zwerge wahr, die unserer Erziehung bedürfen. Und das ist höchst diskriminierend. Die meisten Kinder stehen sinnbildlich zwischen zwei Polen.

(André Stern breitet die Arme aus, schaut von einer Hand zur anderen.)

Einerseits dem «So wie ich bin, bin ich genau richtig»-Pol und andererseits dem «Du genügst meinen Erwartungen nicht»-Pol. Und diese Gegensätzlichkeit zerreisst das Kind innerlich, macht es krank. Deshalb versucht das Kind, diesen Widerspruch aufzulösen. Doch die Sichtweise der Erwachsenen kann es nicht ändern, es kann nur seine eigene ändern … 

… so lange, bis es sich genauso defizitär erlebt wie alle Erwachsenen um es herum?

Und das tut dem Kind sehr, sehr weh – und lässt es sein Leben lang nicht mehr los. Und wissen Sie was? Fast jeder trägt ein solches verletztes Kind in sich.

Aber mal ehrlich: freie Entfaltung, keine Regeln, Vorgaben und Grenzen – diese Idee hatten schon andere.

Sie spielen auf das Laisser-faire-Prinzip der 68er-Generation an, den Gegenentwurf zur Schwarzen Pädagogik (Oberbegriff für Erziehungsmethoden, die Gewalt und Einschüchterung als Methoden enthalten). In beiden Fällen geht es um die Ideen von Erwachsenen, die dem Kind übergestülpt und ihm somit nicht gerecht werden. Das ist nicht mein Prinzip. Zwar lasse ich meinen Sohn Antonin gewähren und korrigiere ihn nicht, doch ich kümmere mich darum, was er tut, mache mit. 

Antonin ist acht Jahre alt, wofür interessiert er sich am meisten?

Es ist schwierig, Kategorien zu bilden. Antonin saugt die ganze Welt regelrecht auf. Aber wenn man einen Bereich herausgreifen sollte, der ihn besonders begeistert, dann ist dies die Raumfahrt. Er hat bereits viele Kontakte geknüpft, sogar einen guten Freund in der Europäischen Weltraumorganisation gefunden. 

Wie haben Sie ihn unterstützt?

Ich habe bisher nichts machen müssen. Sobald man sich für etwas interessiert, konspiriert die ganze Welt.

Das heisst?

Das heisst in seinem Fall, dass er jemandem begegnet, der sagt: «Ich kenne einen Ingenieur und stelle den Kontakt her. So kann ich eine Verbindung herstellen, die für beide kostbar ist.» Dieser Ingenieur ist eine grosse Bereicherung für Antonin, ebenso wie Antonin eine grosse Bereicherung für ihn ist. Er verbindet ihn wieder mit seiner alten Begeisterung für seine Profession. Der kleine Bub stellt dem Wissenschaftler Fragen, auf die er vielleicht keine Antwort weiss und über die er nachdenken muss. Wenn das Kind raus in die weite Welt geht, trifft es auf andere Menschen, mit denen es sich verbindet. Ob das Kinder oder Erwachsene sind, spielt keine Rolle, es trifft auf gemeinsame Interessen. Das Kind hat keinen Grund, sich mit einer Altersgruppe zu identifizieren. 

Hatten Sie als Kind gleichaltrige Freunde, die zur Schule gegangen sind?

Natürlich.

Worin haben Sie sich als Kind von Ihren gleichaltrigen Freunden unterschieden?

Gar nicht. Unsere Welt ist eine schillernde Welt voller Unterschiede. Man fühlt sich unentbehrlich und einzigartig inmitten dieser Unterschiedlichkeit. So leben uns Kinder eigentlich vor, was eine bessere Welt wäre, da sie keine Hierarchien zwischen den Menschen und auch nicht zwischen den Berufen kennen. Sie müssen keine Toleranz erlernen, weil sie keine Intoleranz kennen.

Was macht Ihre Frau beruflich? 

Pauline ist Schauspielerin. Wir sind beide viel unterwegs, aber ich arbeite auch oft von zu Hause aus. Warum fragen Sie?

Um seinen Kindern das zu ermöglichen, was Sie Ihren Kindern ermöglichen, braucht es doch mindestens einen Elternteil, der nicht arbeitet, sondern zu Hause ist?

Bei uns ist immer jemand zu Hause. Wir leben mit meinen Eltern und meiner Schwester zusammen. Doch erst einmal: Es geht nicht darum, das Kind «zu Hause zu behalten», sondern es selbst wählen zu lassen, welche Wege es geht. Das Kind will in die weite Welt hinaus. Das verlangt, dass man als Vater und Mutter da ist. Aber nicht geografisch. Das Einzige, worauf Eltern aufpassen müssen, ist, dass sie ihrem Kind einen sicheren Hafen geben. Das ist der Ort, an dem man dem Kind sagt: «Ich habe dich lieb, weil du bist, wie du bist.» So muss das Kind seine wahren Qualitäten nicht mit irgendwelchen Konzepten oder Ideen zudecken, die seine Eltern, Lehrer oder Erzieher von ihm haben. Es bleibt, was es ist – ein Riese. Das Spannende ist: Wenn Sie diese neue Haltung wirklich leben, dann verschwindet eigentlich der Begriff Kindheit. Denn dieser Begriff kommt von uns Erwachsenen. Und wir Erwachsene sperren unsere Kinder in ein Getto ein, in das Getto der Kindheit.

Das hört sich sehr dramatisch an. Überfordern Sie die Kinder nicht? 

Wie kann Freiheit überfordern? Es überfordert einen nur, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Man kann nicht zu frei sein.

Eine Ihrer Tätigkeiten besteht darin, Lehrpersonen zu beraten. Was sagen Sie ihnen?

Es gibt zwei Dinge, die Lehrpersonen aus Gesprächen mit mir gerne mitnehmen. Erstens, die neue Haltung: «Ich hab dich lieb, weil du so bist, wie du bist.» Wenn man dem Kind so begegnet, wird es sich in 50 Jahren noch daran erinnern, und das nimmt den ganzen Druck. Das andere ist die vorgelebte Begeisterung. Viele Lehrer beklagen sich mit Tränen in den Augen bei mir und fragen, wie sie ihre Schüler wieder begeistern können.

Was antworten Sie ihnen?

Mit deinen Tränen kannst du sie berühren, aber nicht begeistern. Es muss uns bewusst sein, dass wir als Erwachsene ständig Vorbilder für die Kinder sind.
André Stern ging nie zur Schule. Seine beiden Söhne werden dies auch nicht tun.
André Stern ging nie zur Schule. Seine beiden Söhne werden dies auch nicht tun.

Kürzlich hat meine fünfjährige Tochter ihr Tanztrikot angezogen, ihr Ballettbuch für Kinder bereitgelegt und angefangen, die Darstellungen nachzutanzen. Sie war völlig vertieft in ihr Spiel. Aber wir waren verabredet und mussten gehen.

Haben Sie ihr Spiel unterbrochen?

Ja. Und es hat sich nicht gut angefühlt.

Warum machen Sie es dann?
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Vielleicht weil man selbst so aufgewachsen ist. Weil man den anderen vor den Kopf stossen würde, wenn man eine Verabredung so kurzfristig absagen würde.

Das ist das Gewicht unserer Kultur. Und ich weiss nicht, wie Sie diesen Konflikt lösen können. Vielleicht finden Sie mit Ihrer Tochter eine gute Form der Kommunikation, in der Sie ihr sagen: «Hör zu, wir haben nun diese Abmachung, die wir einhalten wollen. Das wird es immer wieder geben im Leben. Aber danach kannst du weiterspielen.» Kinder müssen die Gewissheit haben, dass sie ihr Spiel nahtlos wieder aufnehmen können, dann können sie mit Unterbrechungen gut leben. Ich hatte diese Gewissheit, meine Söhne haben sie auch.

Haben die meisten Kinder heute zu viele (Pflicht-)Termine?

Leider. Kinder können sehr gut mit Frustration und Stress umgehen, solange diese Momente nicht überwiegen. Doch «Nein» überwiegt zu sehr im Leben eines Kindes.

Viele Eltern beklagen heute den Medienkonsum ihrer Kinder.

Das eigentliche Problem ist doch, dass die reale Welt für die meisten Kinder nicht so appetitlich ist wie die virtuelle, deshalb tauchen sie dort ab. Im Videospiel spielen deine Hautfarbe, deine Schulleistungen, dein Geschlecht keine Rolle. In der virtuellen Welt bist du ein Held. Du kannst spielen, und zwar absolut frei, weil die Eltern überhaupt nicht verstehen, was da passiert. Wenn wir sehen, dass unsere Kinder in die virtuelle Welt abtauchen, weil sie nur dort diese Freiheiten haben, sollten wir dafür sorgen, dass sie sich in der realen Welt – sprich, bei uns – wieder wohler fühlen.

Buchtipps

  • André Stern: «Spielen, um zu fühlen, zu lernen und zu leben» Elisabeth Sandmann Verlag 2016, 144 Seiten, ca. 32 Franken
  • André Stern: « … und ich war nie in der Schule. Geschichten eines glücklichen Kindes» ZS Verlag 2009, 182 Seiten, ca. 25 Franken

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