Verträumte Kinder unter Druck - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Verträumte Kinder unter Druck

Lesedauer: 12 Minuten

Sich konzentrieren, zuhören, selbständig arbeiten: Manchen Schulkindern bereitet das grosse Mühe. Warum neigen Kinder zum Tagträumen? Wie gehen Eltern und Lehrpersonen am besten mit einem verträumten Kind um? Und wie schaffen es Familien, im Alltag innezuhalten und gemeinsam zu träumen?

Text: Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund
Bild: Kelly Knox/Stocksy

Das Wichtigste zum Thema 

  • Die Mutter von Can beschreibt die Hausaufgabensituation mit ihrem Jungen so: Verlässt sie den Tisch, hört Can auf zu arbeiten und träumt lieber vor sich hin. Er kommt mit den Aufgaben aus der Schule nicht hinterher und kann ohne Hilfe nicht zuverlässig arbeiten. Müssen sich Kinder wie Can einfach ein wenig mehr zusammenreissen? 
  • Erfahren Sie im Dossier, welche komplexen Prozesse im Gehirn dafür verantwortlich sind, dass es manchen Kindern schwerer fällt, sich zu konzentrieren und wann es ratsam ist, Abklärungen machen zu lassen. 
  • Beim freien Spielen und dann, wenn verträumte Kinder keinem Programm folgen müssen, können diese sich am besten erholen. Sie müssen sich zurückziehen können, damit Reize von aussen sie nicht überfordern. 
  • Eltern müssen einfühlsam, aber auch klar auftreten, sodass sie ihr Kind eng begleiten und es unterstützen können. Auch Lehrpersonen sollten sich dies zu Herzen nehmen. 
  • Die Erfahrungsberichte im Dossier zeigen, dass dies leider häufig nicht der Fall ist. 

Sara und Patrick sitzen im schulischen Standortgespräch ihrer Tochter Noe­lia. «Ihre Tochter muss lernen, sich zu konzentrieren und ihre Sachen pünktlich abzugeben! Ende der zweiten Klasse muss ein Kind eine Agenda führen können, Punkt.» Weiter fordert die Lehrperson, dass sich die Eltern zu Hause mit Hilfe zurückhalten sollen, damit Noelia selbständiger werden kann.
 Wie viele andere Eltern, die Ähnliches erleben, verlassen Sara, 43, und Patrick, 43, das Gespräch mit einem Kloss im Hals. Plötzlich ist da der Druck, etwas zu unternehmen, gleichzeitig aber die Hilflosigkeit, weil es von Seiten der Schule lediglich heisst: Das Kind muss dieses lernen, jenes können, wir setzen das voraus.Wenn Kinder zum Tagträumen neigen, ein langsames Arbeitstempo haben, sich leicht ablenken lassen und vergesslich sind, hören sie von Erwachsenen immer wieder:

  • «Trödle nicht so rum und komm mal in die Gänge.»
  • «Denk bitte ein einziges Mal an dein Zeug.»
  • «Lass dich nicht immer ablenken.»

Diese Ermahnungen wurzeln oft in der Angst, dass das Kind zu spät kommen, in der Schule etwas verpassen, nie selbständig werden und die Anforderungen nicht erfüllen wird. Kurzum: dass die Zukunft des Kindes bedroht ist, wenn es jetzt nicht «aufwacht», der «Knoten nicht langsam platzt». Es wird von «Gas geben», abfahrenden Zügen, Weichen, die beim Übertritt gestellt werden, und Abstellgleisen gesprochen.

Wie aber erleben die Kinder die Anforderungen, die an sie gestellt werden? Wie können Eltern und Lehrpersonen Kinder unterstützen, die zum Tagträumen neigen? Wie verschafft man ihnen mehr Raum und Zeit, um ihren Bedürfnissen besser nachkommen zu können? Diesen und weiteren Fragen möchten wir uns in dem folgenden Dossier widmen.

Wenn der Druck steigt

Für Lehrerinnen und Lehrer ist es schwer auszuhalten, wenn sie mit ansehen müssen, wie ein verträumtes Kind im Unterricht permanent aus dem Fenster schaut, mit den Arbeitsblättern erst beginnt, wenn die anderen fast fertig sind, die Hausaufgaben nicht dabei hat und sich die Note in Tests durch «unnötige» Flüchtigkeits­fehler sowie zu langsames Arbeiten verdirbt. Schnell fürchten sie, dass sie den Lehrplan nicht einhalten können und das Kind sein Potenzial nicht ausschöpfen wird.

Manche Eltern sehen die Zukunft ihres Kindesbedroht, wenn es «rumtrödelt», «nicht in die Gänge kommt».

Die Eltern wiederum fühlen sich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihr Kind nicht ins Hintertreffen gerät – schliesslich sehen sie, wie die Mitschülerinnen und Mitschüler die Anforderungen der Schule scheinbar mühelos meistern.

Bild: Maskot/Getty Images
Bild: Maskot/Getty Images

Das Kind könnte es eigentlich …

Raffaela, 38, aus Luzern, Mutter des siebenjährigen Can, spricht von einer belastenden Situation: «Wenn ich mich mit anderen Müttern aus­tausche, bin ich noch deprimierter. Deren Kinder sind in kurzer Zeit mit den Hausaufgaben fertig und lösen sie alleine. Bei uns geht das überhaupt nicht! Ich muss neben Can sitzen, sonst macht er keinen Strich. Und wenn ich für fünf Minuten aufstehe mit der Anweisung ‹Lös das zu Ende›, komme ich zurück und es ist wieder nichts gemacht! Lieber spielt er mit dem Radier­gummi, starrt an die Wand oder fingert an irgendetwas herum. Seit der ersten Klasse bringt er am Freitag immer einen Berg Aufgaben mit nach Hause, die er während der Woche in der Schule nicht geschafft hat.»

«Das verträumte Kind muss sich halt mal für 20 Minuten zusammenreissen.» Aber so einfach ist die Sache nicht.

Immer wieder fällt im Zusammenhang mit verträumten Kindern von Eltern und Lehrpersonen der Satz: «Wir wissen, dass er/sie es ‹eigentlich› könnte, aber …»
Dieses «Aber» scheint oft eine Kleinigkeit zu sein und etwas, was vom Kind kommen muss: ein bisschen guter Wille, Selbstverantwortung, Motivation und Konzentra­tion. Alles ginge leichter, wenn sich das Kind «für 20 Minuten zusammenreissen» würde oder «den Kopf ein bisschen bei der Sache» hätte. Ist das denn zu viel verlangt?

Um diese Frage zu beantworten, können wir einen Blick in unser Gehirn werfen. Eines möchten wir mit den Worten des Schriftstellers Albert Camus bereits vorwegnehmen: «Niemand realisiert, dass einige Menschen unglaublich viel Energie aufwenden, um normal zu sein.»

So funktioniert Konzentration

Nicht nur technische Geräte haben eine Standardeinstellung, auch unser Gehirn hat einen Default Mode. Entdeckt wurde dieses Netzwerk in unserem Gehirn erstmals 2001 durch den Radiologen Marcus Raichle in den USA. Er verglich die Gehirnaktivität von Versuchspersonen, während diese eine Aufgabe lösten, mit Momenten, in denen sie ruhig in der Röhre lagen und einen Punkt fixierten. Entgegen bisherigen Vorstellungen war das Gehirn in der Ruhe­situation nicht einfach untätig.

Stattdessen waren bestimmte Gehirn­­­­areale deutlich stärker aktiviert, als wenn sich die Probanden auf eine Aufgabe konzentrierten. In weiteren Studien fand man heraus, dass dieses Ruhenetzwerk auch dann aktiviert wird, wenn wir beispielsweise tagträumen, Zukunftspläne schmieden, über uns und unser Leben nachdenken oder Kunst betrachten – also immer dann, wenn wir unsere Gedanken schweifen lassen, anstatt unseren Geist auf eine bestimmte Tätigkeit zu fokussieren.

Bei manchen Kindern reift das Gehirn langsamer; die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, bildet sich später oder weniger gut aus.

Wollen wir uns auf eine Aufgabe konzentrieren, muss das Gehirn die Aktivität im Ruhenetzwerk unterdrücken. Gleichzeitig erhöht sich die Tätigkeit eines anderen Netzwerks, das unter dem Begriff «exekutive Kontrolle» zusammengefasst wird. Dieses hilft uns dabei, unsere Aufmerksamkeit bewusst zu steuern, zwischen Aufgaben hin- und herzuwechseln, zu organisieren und zu planen, uns flexibel auf Unvorhergesehenes einzustellen und das eigene Arbeitsverhalten zu überwachen.

Je stärker wir unsere Aufmerksamkeit bündeln und uns auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren müssen, desto mehr muss unser Gehirn das Ruhenetzwerk hemmen und die exekutive Kontrolle hochfahren.

Diese Fähigkeit des Gehirns entwickelt sich im Laufe der Kindheit bis ins Erwachsenenalter hinein. Bei manchen Kindern reift das Gehirn jedoch langsamer und die Feinabstimmung zwischen der exekutiven Kontrolle und dem Ruhenetzwerk bildet sich später und teilweise weniger gut aus. Dies hängt nach aktuellem Stand der Forschung von einem komplexen Zusammenspiel zwischen Genen, Einflüssen während der Schwangerschaft und der Geburt sowie Umgebungsfaktoren ab.

In der Folge fällt es diesen Kindern schwerer, Tagträume willentlich zu unterdrücken, zu registrieren, wenn sie abschweifen, und sich bewusst neu zu fokussieren, wie mittlerweile viele Befunde aus den Neurowissenschaften zeigen. Von aussen lässt sich in diesen Momenten beobachten, wie die Buben und Mädchen innerlich abwesend wirken, nicht mit dem Arbeitsblatt ­beginnen, der Lehrerin kaum zuhören können und – wenn sie einmal konzentriert sind – rasch ermüden, woraufhin ihr Ruhenetzwerk wieder die Führung übernimmt.
 
Das alles lässt die Anforderungen in der Schule für verträumte Kinder deutlich anstrengender werden. Fabienne, die Mutter eines Neunjährigen, erzählt: «Julin war zusehends gegen Ende Woche – und manchmal auch schon dienstags – sehr erschöpft vom Schul- und Hortbetrieb. Er hat regelmässig über Bauchweh geklagt und wollte nicht mehr in die Schule oder ist früher von der Schule heimgekommen.» Auch Sara und Patrick aus dem Kanton Bern, die Eltern der eingangs erwähnten Noelia, kennen diese Erschöpfung: «Der Druck und das Tempo brachten Noelia an den Anschlag. Ende der zweiten Klasse wollte sie nicht mehr in die Schule gehen und ­wirkte fast depressiv.»

Bild: Gustafsson/DEEPOL by Plainpicture
Bild: Gustafsson/DEEPOL by Plainpicture

Wann spricht man von einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung?

Wir können uns die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit bewusst auf einen Gegenstand zu lenken und die Konzentration über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechtzuerhalten, als Kontinuum vorstellen. 

Manchen Kindern gelingt es sehr früh, sich länger auf von aussen vorgegebene Aufgaben zu fokussieren und dabei Ablenkungen auszublenden, anderen etwas später und manche Menschen zeigen ihr Leben lang Auffälligkeiten in diesem Bereich.

Von einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung spricht man, wenn diese Auffälligkeiten auf dem Kontinuum einen bestimmten Grenzwert überschreiten. Diese Grenze wird anhand von Diagnosekriterien festgelegt. Ob ein Kind diese erfüllt, wird in einer Abklärung festgestellt. 

Wenn das Kind unter seiner Verträumtheit leidet oder seine Vergesslichkeit, Langsamkeit und mangelnde Konzentrations­fähigkeit seine Entwicklung beeinträchtigen, kann eine Abklärung sinnvoll sein und den Zugang zu einer Therapie sowie ­Unterstützungsmöglichkeiten durch die Schule erleichtern.

Wo verträumte Kinder auftanken

Damit verträumte Kinder langfristig gesund, zufrieden und leistungsbereit sein können, müssen sie selbst und ihr Umfeld herausfinden, wo ihre Grenzen liegen, welche Situa­tionen und Tätigkeiten das Kind besonders beanspruchen und wo es Energie tanken kann.

Besonders ermüdend ist für verträumte Kinder alles, was die exekutive Kontrolle stark beansprucht.

Verträumte Kinder empfinden es als besonders anstrengend, wenn viel Neues auf sie einströmt, es laut und hektisch zugeht.

Kennen Sie das? Sie schauen sich ein Handyvideo an und denken: Warum hat es plötzlich so viele Nebengeräusche? Es war doch ruhig? Unser Gehirn erbringt eine erstaunliche Filterleistung. Es verfügt über neuronale Strukturen, die wichtige Reize hervorheben und unwichtige dämpfen, sodass Sie etwa Ihren Gesprächspartner sehr gut hören und den Hintergrundlärm nach einiger Zeit nicht mehr wahrnehmen. Diese Leistung beansprucht und ermüdet die exekutive Kontrolle.

Wenn viel Neues auf sie einströmt, es unübersichtlich, laut und hektisch zugeht, kostet dies verträumte Kinder besonders viel Energie. 
Noelia sagt dazu: «Wenn viele Leute um mich herum sind, dann denke ich ganz oft einfach an etwas anderes und hätte am liebsten, dass ganz viele heimgehen würden.»

Ihre Eltern, Sara und Patrick, achten darauf, dass ihre Tochter nicht zu vielen Reizen ausgesetzt wird, die sie überfordern. Nachdem ihr der grosse, unübersichtliche Schulbetrieb zunehmend zugesetzt hatte, nutzten sie die Gelegenheit, sie auf die andere öffentliche Schule in der Umgebung wechseln zu ­lassen: das ländliche Schulhaus auf dem Belpberg mit 35 Kindern und kleinen, altersdurchmischten Klassen. Hier fühlt sich die Neunjährige wohler: «Weisst du», sagt sie, «wenn ich zum Fenster rausschau, sehe ich einfach grün.»

Laurence Mouton / Getty Images
Laurence Mouton / Getty Images

Immer schön nach Programm

Die fünfköpfige Familie stellt sich immer wieder die Frage, was jede/r Einzelne braucht und wo man aufeinander Rücksicht nehmen muss: «Auch wenn das für uns Eltern mehr Organisation erfordert, würden wir Noelia beispielsweise nie zum Mittagstisch schicken und danach zum Nachmittagsunterricht. Wir wissen einfach: Das würde sie kaputt machen. Sie braucht ihre Ruhe und ihren Raum.»

Die Gedanken schweifen lassen, dem eigenen Rhythmus folgen, kreativ werden und eigene Ideen verwirklichen, frei spielen – für all das haben Kinder heute deutlich weniger Zeit als früher. Mehr und mehr werden diese Momente durch strukturierte Aktivitäten in Vereinen, ausserschulischen Kursen und Tagesstrukturen abgelöst.

Gerade in unverplanten Momenten können verträumte Kinder auftanken und sich erholen. Einem von Erwachsenen vorgegebenen Programm zu folgen, strengt sie an – auch wenn es sich dabei um ein Hobby handelt.

Verträumte Kinder sind auf Zeiträume angewiesen, in denen sie sich zurückziehen und ihren Tagträumen nachhängen können.

Fabienne, Mittelstufenlehrerin aus Uster und Mutter eines Neunjährigen, erzählt über ihren Sohn: «Ich schaute oft beim Aikido-Training zu, das Julin seit zwei Jahren besucht. Dort konnte man sein Tagträumen enorm gut beobachten. Der Trainer erklärte etwas, alle Kinder waren konzentriert dabei – nur Julin hat irgendwo in eine komplett andere Richtung geschaut und nichts mitgekriegt von den Erklärungen.»

Verträumte Kinder sind auf Zeiträume angewiesen, in denen sie sich zurückziehen und ihren Tagträumen nachhängen können. Für den siebenjährigen Can ist es das Spielen, bei dem er sich stundenlang alleine mit seinen Autos, Actionfiguren oder Legos beschäftigen kann. Dann ist er in seiner eigenen Traum-Welt. Schnelle Spiele frustrieren ihn. Lieber bastelt er in Ruhe etwas, was er zuvor auf You­tube gesehen hat. Er liebt es auch, sich zu verkleiden und schminken zu lassen, dann kann er sich ewig im Spiegel betrachten.

Auch bei Noelia ist die Fähigkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen, stark ausgeprägt. Nach der Schule kommt sie oft nach Hause und geht in ihr Zimmer. Sie sagt: «Es ist mir egal, ob ich dann noch rauskann. Ich muss mich zuerst erholen.» Auch ihre Eltern haben gemerkt, wie wichtig es ist, den Alltag bewusst zu entschlacken: «Wir mussten lernen, auf uns Acht zu geben und zum Beispiel zu verstehen: Wenn wir in ein grosses Einkaufszentrum oder an ein Fest gehen, dann kostet uns das etwas als Familie. Auch die schönen Dinge. Danach müssen wir einen freien Tag einschalten, an dem wir uns erholen können, keine Termine haben und niemanden treffen.»

Vorwärts, vorwärts, Tempo, Tempo

Wenn man verträumte Kinder hetzt oder überfordert, kann man fast dabei zuschauen, wie sie langsamer werden. Oft ziehen sie sich unter Druck in ihre Innenwelt zurück und blenden die hektische und fordernde Umwelt aus – oder sie explodieren, wie das folgende Beispiel von Noelia zeigt. Ihr Vater erzählt: «Die Lehrerin rief bei uns an und sagte, Noelia sei in der Schule frech gewesen und ausgerastet, als sie zum wiederholten Mal die Hausaufgaben vergessen hatte. Ich antwortete: ‹Noelia rastet aus, wenn sie unter immensem Druck steht, sich ungerecht behandelt fühlt und nicht mehr weiss, was ihre Aufgabe ist. Könnten Sie Noelia dabei unterstützen, an die Hausaufgaben zu denken?› Aber die Lehrperson blieb dabei: Sie müsse das einfach können, sie als Lehrperson müsse den vorgegebenen Lehrplan einhalten und die Ziele müssten erreicht werden. Wir Eltern dachten: Worum geht es jetzt hier? Darum, dass die Lehrer ihr Programm durchackern, oder auch um Pädagogik, darum, dass Kind zu fördern, zu spüren, wie es einem Kind geht, wie es die gesteckten Ziele erreichen könnte?  Das Lehrerteam an der neuen Schule geht zum Glück pragmatischer vor und sagt beispielsweise: ‹Ja, Noelia ist eben etwas langsamer. Wenn es nicht mehr geht, soll sie kurz raus, eine Runde springen gehen.›»

Bild: Stocksy
Bild: Stocksy

Da verträumte Kinder sich bei äusserem Druck gerne in ihre Innenwelt zurückziehen, werden vor allem die Anforderungen zum Problem, die von aussen kommen und unter Zeitdruck erledigt werden müssen:

  • das morgendliche Anziehen,
  • die Hausaufgaben,
  • der Unterricht.

Verschärft wird dies noch, wenn von den Kindern viel Selbstorganisation und Selbstverantwortung verlangt wird – wie beispielsweise beim selbstorganisierten Lernen.

Fabienne erzählt: «In der zweiten Klasse ist Julin oft vor dem leeren Blatt gesessen und hat zum Teil bei Lernkontrollen fast nichts ausgefüllt. Auch mit dem Wochenplan ist er nicht vorwärtsgekommen.»

Auch für Noelia war das offene Setting an ihrer früheren Schule eine Überforderung: «Die vielen Wechsel und der Ansatz der Schule, jedes Kind sein eigenes Programm machen zu lassen, setzten Noelia zu. Die Kinder mussten sogar jeden Tag neu entscheiden, wo sie sitzen. Bis unsere Tochter erst einmal ihren Platz ausgewählt und ihre Sachen beisammen hatte, stand schon wieder eine an­dere Aufgabe an. Dadurch entstand der grosse Frust, immer hinterherzu­hinken.»

Verträumte Kinder eng begleiten

So wichtig die exekutive Kontrolle und die damit verbundenen Fertigkeiten wie Planung, Organisation, Selbstverantwortung, Entscheidungsfähigkeit oder das Überwachen des eigenen Lernfortschritts für die moderne Arbeitswelt sind: Wir können nicht davon ausgehen, dass Kinder diese Fertigkeiten im Vorbeigehen aufschnappen, nur weil man sie entsprechend fordert.
 
In Schulen, die das selbstorganisierte Lernen erfolgreich umsetzen, werden die Kinder langsam und schrittweise an diese Arbeitsweise herangeführt und die verträumten Kinder dabei eng begleitet. Auch bei den Hausaufgaben achten sie darauf, dass die Kinder mit dem Umfang und dem Schwierigkeitsgrad nicht überfordert werden. Und auch in diesem Fall bleibt das selbst­organisierte Lernen schwierig, da es genau das fordert, was verträumten Kindern am meisten Mühe bereitet. 
Dort, wo die Schule wenig Ent­gegenkommen zeigt, müssen die Eltern immer wieder eine Pufferfunktion übernehmen und sich – vielleicht gemeinsam mit einer Fachperson – überlegen:

  • Was wird von unserem Kind verlangt? Welche (unausgesprochenen) Forderungen stehen im Raum? 
  • Was kann das Kind momentan tatsächlich leisten? Wo wird es ihm zu viel?
  • Welche Form der Unterstützung ist hilfreich, welche nicht?
  • Und wo müssen wir unser Kind vor Überforderung schützen und mit der Aussenwelt verhandeln? 

Eltern sollten versuchen, den Hang ihres Kindes zum
 Tagträumen als besondere Qualität wahrzunehmen.

Von den Eltern erfordert dies gleichzeitig Feinfühligkeit sowie eine gewisse Klarheit und Durchsetzungsfähigkeit im Umgang mit der Aussenwelt, Akzeptanz für die Besonderheiten des Kindes ebenso wie Vertrauen in dessen Entwicklungsfähigkeit.

Dabei gilt es, den Blick auch auf die Stärken des Kindes zu richten und seinen Hang zum Tagträumen sowie seine Langsamkeit auch als besondere Qualitäten wahrzunehmen. Viele verträumte Kinder sind kreativ, haben eine reiche Innenwelt und viel Fantasie, sind feinfühlig und in der Lage, Lösungen auf Fragen zu finden, bei denen man mit geradlinigem Denken nicht weiterkommt. Noelias Eltern haben aus der anfänglichen Hilflosigkeit herausgefunden – dank gegenseitiger Unterstützung in der Partnerschaft, einem intensiven und offenen Austausch innerhalb der ganzen Familie, Beratung, ermutigenden Worten der Kinderärztin und dem Engagement der aktuellen Lehrpersonen.

Heute sagen sie: «Wir glauben, unser Beitrag als Eltern sollte darin bestehen, dass Noelia aufwachsen darf und weiss:  Sie ist wertvoll, sie ist geliebt, gut, wie sie ist, und hat Stärken und Schwächen. Dann wird sie auch für andere Menschen ein Gewinn sein, daran glauben wir ­einfach.»

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Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund
sind Psychologen und leiten die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Die beiden eint der Wunsch, dass Kindergarten und Schule Orte sind, wo sich Kinder, Eltern und Lehrpersonen wohl fühlen und voneinander lernen können.

Alle Artikel von Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund

Literaturtipps:

  • Joachim Bauer: «Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens». Heyne 2018, 240 Seiten, ca. 17 Fr.
  • Daniel Goleman: «Konzentriert Euch! Eine Anleitung zum modernen Leben». Piper 2015, 384 Seiten, ca. 17 Fr.Helga Simchen: «ADS. Unkonzentriert, verträumt, zu langsam und viele Fehler im Diktat. Diagnostik, Therapie und Hilfen für das hypoaktive Kind». Kohlhammer 2019, 180 Seiten, ca. 29 Fr.
  • Myla und Jon Kabat-Zinn: «Mit Kindern wachsen. Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie». Arbor 2015, 416 Seiten, ca. 37 Fr.
  • Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund: «Lotte, träumst du schon wieder?». Hogrefe 2020, 184 Seiten, ca. 34 Fr., erscheint am 14. September 2020
  • Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund: «Erfolgreich lernen mit ADHS. Der praktische Ratgeber für Eltern». Hogrefe 2016, 256 Seiten, ca. 38 Fr.

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