«In deinem Gehirn ist etwas kaputt» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«In deinem Gehirn ist etwas kaputt»

Lesedauer: 3 Minuten

Ich erzähle

Sindy Schenk, 39, lebt mit ihrer Tochter, 6, und ihrem Mann im Kanton Aargau. Die gelernte Erzieherin war ein sehr verträumtes Kind und hat in ihrer Schulzeit schlechte Erfahrungen gemacht. Heute erkennt sie sich in ihrer Tochter wieder.

«Ich war schon in der Schule immer die Letzte bei allem. Mich persönlich hat das eigentlich nie gross gestört, aber meine Mutter und der Lehrer waren sich wohl einig, dass da etwas getan werden müsse.

So stand dann eines Tages – ohne, dass ich etwas davon wusste – in der vierten Klasse ein Mann morgens neben dem Lehrer, der der ganzen Klasse erklärte, mit mir stimme etwas nicht. Deswegen wäre ich so langsam und er wäre da, um das zu REPARIEREN! Er nahm mich mit in den Nebenraum. Dort erklärte er mir dann: «Dein Gehirn funktioniert wie ein Computer und in deinem Gehirn ist etwas kaputt. Ich bin der ­Reparateur. Stell dir einfach vor, dass ich mit ­­einer neuen Diskette dein Gehirn neu starte.»

Ich weiss heute noch, dass ich, nachdem ich meine Fassung wiederhatte, ihm wutentbrannt ins Gesicht geschrien habe: «Sie spinnen doch! Bei Ihnen ist doch etwas kaputt! Mit mir ist alles in Ordnung und ich bin gerne so langsam.»
Ich verliess den Raum und konnte nicht verstehen, dass andere der Meinung waren, dass mit mir etwas nicht stimmt. Das war eine einschneidende Erfahrung für mich.

Ich mochte und mag meine Langsamkeit bis heute, weil sie ein Teil meiner Persönlichkeit ist. Ich bin so langsam, weil ich in jeder Kleinigkeit einen neuen, unendlichen Gedankengang finde. Wenn ich mir zum Beispiel die Schuhe binde, frage ich mich, warum dieser Knoten hält, stelle mir die Mechanik dahinter vor, erforsche in Gedanken, warum das bei unterschiedlichen Materialien anders ist, welche Rolle Reibung dabei spielt … Ich frage mich, wer den Knoten erfunden hat … So ist das mit allem in meinem Alltag und ich will immer wissen, wie alles funktioniert. Mir wurde aber auch nie eine Strategie angeboten, die nicht einfach meinen Wissensdurst hätte stoppen sollen, sondern mir eine echte Hilfe gewesen wäre.

Heute weiss ich, dass ich es nur geschafft habe, weil ich eine sehr starke Persönlichkeit habe und ich in einem älteren Mann mit Pferden jemanden gefunden habe, der all meine positiven Eigenschaften geschätzt hat und nie ein Wort darüber verlor, wie lange ich für alles brauchte, sondern wie toll es ist, dass ich meine Aufgaben mit soviel Genauigkeit erfüllt habe, sogar das Ausmisten.
Auch, wenn ich meine Langsamkeit und verträumte, trödelige Art nicht missen möchte, ist mir bewusst, dass ich bis heute manchmal ungewollt die Nerven meiner Mitmenschen strapaziere. Es ist für mich immer noch schwer, pünklich zu sein und mich auf die Aufgabe, die ich habe, zu fokussieren, nicht abzuschweifen.

In meiner sechsjährigen Tochter erkenne ich eine Miniversion von mir, was das Trödeln angeht. Auch sie ist sehr verträumt und langsam im Leben unterwegs. So wurde beim Kindergartengespräch auch angesprochen, dass sie in der Schule wahrscheinlich Schwierigkeiten bekommen wird. Jetzt bin ich in einem echten Dilemma. Einerseits will ich, dass sie bleibt, wie sie ist. Andererseits weiss ich ja, was das für Schwierigkeiten mit sich bringt. Meine grösste Angst ist, dass sie – so wie ich – zwar alle Antworten in Tests weiss, sie aber nie in der vorgegebenen Zeit beenden kann. Das setzt einen enorm unter Druck.

Ich frage mich, wie ich meine Tochter unterstützen kann, ohne sie zu ändern. Hoffentlich werden ihre Lehrpersonen erkennen, welches Potenzial hinter ihrer verträumten Art steckt: sie hat bereits jetzt ein grosses Allgemeinwissen und ihre Gedankengänge sind wunderbar. Als Mutter möchte ich unbedingt darauf achten, dass sie nie verlernt, diese unglaublichen Traumwelten zu erschaffen.»


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