Remo Largo – vom Kind her denken - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Remo Largo – vom Kind her denken

Lesedauer: 6 Minuten

Er hatte ein besonderes Auge für Momente und Situationen. Und immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte anderer. Er war ein wichtiger Wegbegleiter für so viele Eltern. Und ein Anwalt der Kinder. Jetzt ist seine Stimme verstummt. Aber sein Menschenbild wird in uns weiterleben. Oskar Jenni und Bea Latal, Remo Largos Nachfolger als Leiter der Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, nehmen von ihrem Freund und Vorbild Abschied.

Text: Bea Latal & Oskar Jenni
Bild: Gaëtan Bally/Keystone / Christian Grund/13 Photo

Der Tod von Remo Largo hat uns alle überrascht, erschüttert und sehr traurig gemacht. Das Medienecho ist riesig und zeigt auf eindrückliche Weise die Bedeutung seines Werks. Sein Tod ist für uns eine Zäsur, die uns über sein Schaffen und sein Vermächtnis nachdenken lässt: Wird seine Stimme für die Kinder verstummen?

Nein, das wird sie nicht, denn seine Bücher werden seine Worte weitertragen. Wir Kinderärztinnen und Kinderärzte haben seine Haltung verinnerlicht, setzen sie in unserem Alltag mit Kindern und ihren Familien um und werden seine Ideen weiterentwickeln.

Prof. Dr. Bea Latal und Prof. Dr. Oskar Jenni leiten die Abteilung Entwicklungspädiatrie am ­Universitäts-Kinderspital Zürich.  Bea Latal ist Kinder- und Jugendmedizinerin sowie ausserordentliche Professorin für Entwicklungspädiatrie ad personam an der Universität Zürich. Für ihre Forschung, u. a. zu Frühgeborenen und Kindern mit angeborenem Herzfehler, wurde die Mutter von zwei Söhnen mehrfach ausgezeichnet.    Oskar Jenni ist Kinder- und Jugendmediziner sowie ausserordentlicher Professor für Entwicklungspädiatrie ad personam. Er erforscht u. a. das Schlafverhalten sowie die motorische, kognitive und soziale Entwicklung von Kindern. Seit 2018 ist der Vater von vier Jungen Leiter der «Akademie. Für das Kind» in Zürich. 
Prof. Dr. Bea Latal und Prof. Dr. Oskar Jenni leiten die Abteilung Entwicklungspädiatrie am ­Universitäts-Kinderspital Zürich.
Bea Latal ist Kinder- und Jugendmedizinerin sowie ausserordentliche Professorin für Entwicklungspädiatrie ad personam an der Universität Zürich. Für ihre Forschung, u. a. zu Frühgeborenen und Kindern mit angeborenem Herzfehler, wurde die Mutter von zwei Söhnen mehrfach ausgezeichnet.
Oskar Jenni ist Kinder- und Jugendmediziner sowie ausserordentlicher Professor für Entwicklungspädiatrie ad personam. Er erforscht u. a. das Schlafverhalten sowie die motorische, kognitive und soziale Entwicklung von Kindern. Seit 2018 ist der Vater von vier Jungen Leiter der «Akademie. Für das Kind» in Zürich. (Bild: zVg)

Als Lehrer, Mentor und Freund lehrte Remo Largo uns jeden Tag, wie vielfältig das Menschsein ist und was wir tun können, damit jede und jeder von uns seine eigene Individualität leben kann. Was zeichnete den Menschen Remo Largo aus?

Er war neugierig und wissensdurstig.

Zwischen 1976 und 1978 arbeitete er an der Child Development Unit der University of California in Los Angeles (UCLA) bei Arthur Parmelee. Der bekannte Entwicklungspädiater war ein Pionier der Hirnforschung im Kindesalter. Remo Largo war fasziniert von den damals neuen technischen Möglichkeiten, das kindliche Gehirn sichtbar zu machen. Zwar hatte er sich bereits vorher in Zürich viel Wissen über die kindliche Entwicklung angeeignet, aber Hirnstrommessungen sollten ihm ein gänzlich neues Fenster zum Kind eröffnen.

Ein Kind braucht nicht Anerkennung für das Erreichte, sondern dafür, dass es sich bemüht hat.

Aus «Kinderjahre»

Es kam jedoch alles ganz anders: Methodische und finanzielle Probleme führten nach wenigen Monaten zum Abbruch des Projekts. Enttäuscht wandte sich Remo Largo fortan und zeitlebens von der Hirnforschung und den experimentellen Methoden der Entwicklungswissenschaften ab. Stattdessen widmete er sich demjenigen Forschungszweig, den er später in Zürich fortsetzen sollte und der Grundlage seines umfangreichen Werks wurde: der Beobachtung der kindlichen Entwicklung.

Er war offen und interessiert.

Er war ein Mensch, der gut zuhören konnte, Ideen und Gedanken aufnahm, sie verarbeitete und weiterentwickelte. Nach dem Scheitern der Forschung unter ­Parmelee besuchte er die grossen amerikanischen Entwicklungszentren und beschäftigte sich vertieft mit entwicklungspsychologischen Themen. An der UCLA widmete er sich fortan einem Projekt über die Spiel- und Sprachentwicklung. So untersuchte er zahlreiche Kinder und zeichnete akribisch ihr Spielverhalten in den ersten Lebensjahren nach. Er erkannte, dass Kinder von sich aus neugierig sind und sich im Spiel entwickeln.

Selbstbestimmt zu leben, ist ein hohes Gut, das wir nicht nur für uns selbst in Anspruch nehmen dürfen, sondern auch allen Menschen zugestehen müssen, indem wir ihren Willen respektieren.

Aus «Das passende Leben»

In dieser Zeit las er intensiv die Schriften des berühmten Schweizer Entwicklungsforschers und Biologen Jean Piaget, die ihn in der Folge sehr prägen sollten. Remo war fasziniert vom Gedanken, dass das Kind seine Entwicklung durch die eigenen Handlungen selbst steuert. Seine Überzeugung wuchs, dass wir Erwachsenen die Entwicklung des Kindes nicht beschleunigen können, sondern einzig dafür sorgen müssen, dass sich das Kind wohl und mit all seinen Eigenschaften und Eigenheiten vom Umfeld akzeptiert fühlt.

Er war liebevoll und warmherzig.

Diese Eigenschaften erachtete er für Bezugspersonen im Umgang mit dem Kind als zentral. Oft benutzte er das Wort «Geborgenheit». Er war überzeugt, dass sich ein Kind nur dann geborgen fühlt, wenn seine Bezugspersonen verfügbar, verlässlich, vertraut und liebevoll sind. Aber auch seinen Freunden, Mitarbeitenden und Eltern seiner Patientinnen und Patienten gab er Geborgenheit.

Von welchen Faktoren hängt das psychische Wohlbefinden eines Kindes ab? Das wichtigste Element ist das Gefühl von Geborgenheit.

Aus «Babyjahre»

Immer wenn man Remo Largo traf, fragte er, wie es einem, den Kindern oder anderen Familienmitgliedern geht. Die Frage war nie eine Floskel, sondern das Wohlergehen seines Gegenübers lag ihm wirklich am Herzen. Er hatte immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte anderer und hörte achtsam zu.

Er war umsichtig und visionär.

Mit neuen Erkenntnissen aus den USA im Gepäck übernahm er 1978 von seinem Mentor Andrea Prader die Verantwortung für die Zürcher Longitudinalstudien, die 1954 initiiert worden waren. Er startete eine zweite und sogar eine dritte Studie, baute diese aus und liess sein umfangreiches Wissen einfliessen, das er in Amerika erworben hatte.

Wenn Jugendliche selbständige und verantwortliche Erwachsene werden sollen, müssen sie auch Fehler machen dürfen.

Aus «Jugendjahre»

So untersuchte er zum Beispiel die Entwicklung des Spiels der Kinder, deren Denken und die Sprache, den Schlaf, die Entwicklung der Sauberkeit und viele ­Aspekte des sozialen Verhaltens. Dieser grosse Wissensfundus war die Grundlage für seine Bücher und das «Fit-Konzept». Dabei beobachtete er die Kinder, filmte und fotografierte sie. Er hatte ein Auge für besondere Situationen und Momente. Es war grossartig, zusammen mit ihm die kindlichen Verhaltensweisen im Video genau zu analysieren und auf diese Weise zu verstehen. Das Video war Remo Largos Stethoskop.

Er war humorvoll und geduldig.

Innert Minuten war er mit Kindern in ein Spiel verwickelt, lachte und zog die Kinder in seinen Bann. Auch Studierende und Assistierende waren fasziniert von seiner Art, auf Kinder zuzugehen. Er stach unter den Dozierenden heraus, weil es ihm intuitiv gelang, dem Kind auf Augenhöhe zu begegnen und sich auf seinen individuellen Entwicklungsstand einzustellen.

Kinder lieben ihre Eltern nicht, weil sie ihre Erzeuger sind, sondern weil sie eine Beziehung mit ihnen haben, die nur aus gemeinsamen Erfahrungen heraus entstehen kann.

Aus «Schülerjahre»

Auch hörte er sich die Geschichten der Familien geduldig an und versuchte, das Umfeld des Kindes zu verstehen. Dabei betrachtete er die Welt immer aus Sicht des Kindes, versuchte sich in das Kind hineinzuversetzen und «vom Kind her zu denken», wie er oft sagte. Er fokussierte sich auf die Stärken eines Kindes, akzeptierte die Schwächen oder übersah diese grosszügig – nicht nur bei Kindern, sondern auch bei seinen Mitarbeitenden und Freunden. Es gelang ihm, jedem seinen Platz zu geben und ein Team zu formen, das unterschiedliche Menschen vereint.

Er war beharrlich und provokativ.

Für viele war seine tiefe Überzeugung, dass die Anforderungen der Gesellschaft an die Eigenschaften des Kindes angepasst werden müssen, pure Provokation. Er eckte mit dieser Forderung besonders in der Bildungsszene an, weil die Schule bis zu einem gewissen Grad von Gleichmacherei geprägt ist. Diese war für Remo Largo, den überzeugten Hüter der kindlichen Vielfalt, ein Graus. Dabei musste er viel Ablehnung ertragen, vor allem von Seiten der Pädagogik. «Schuster, bleib bei ­deinem Leisten» oder «Als Kinderarzt hat Largo keine Ahnung, was in den Schulzimmern läuft» waren häu­fige Kritiken, wenn er wiederholt provokante Thesen einbrachte.

Nur wenn die Eltern der Schule und dem Lehrer vertrauen und sich mit ihm identifizieren, kann sich das Kind in der Schule unterstützt und akzeptiert fühlen. Dann wird die Schule zu seiner Schule.

Aus «Schülerjahre»

Eine grosse Genugtuung erfuhr er 2006, als er den Bildungspreis der Pädagogischen Hochschule Zürich erhielt und in der Laudatio hören durfte, dass er «als Kinderarzt eigentlich ein geborener Pädagoge ist».

Er war kommunikativ und konnte begeistern.

Wie kein anderer hat er es verstanden, das komplexe Wissen über die Entwicklung von der Geburt bis in das Erwachsenenalter in einer klaren und verständlichen Sprache zu vermitteln; seine Bücher sind ohne Zweifel der Beweis dafür.

Wir haben diese Begabung im gemeinsamen Alltag auch gespürt. Wenn man ihm beispielsweise wissenschaftliche Daten präsentierte, fragte er jeweils am Schluss: «Und was ist deine Botschaft?» Er machte ­keine Forschung im Elfenbeinturm, sondern dachte stets ­daran, welche Bedeutung die wissenschaftlichen ­Befunde für den Umgang mit den Kindern und Familien haben könnten. Mit diesem Transfer von Erkenntnissen der Forschung in die Gesellschaft war er seiner Zeit weit voraus, denn erst in den letzten Jahren wird zunehmend ein öffentlicher Dialog über die Wissenschaft gefordert und gepflegt.

Eine Erziehung, bei der Eltern und Bezugspersonen bestimmen, was ein Kind zu denken und zu tun hat, wird einen Erwachsenen hervorbringen, der fremdbestimmt ist.

Aus «Kinderjahre»

Niemand war in den letzten 30 Jahren im deutschsprachigen Raum besser in der Lage, den umfangreichen Wissensfundus über die kindliche Entwicklung in unserer Gesellschaft so tief zu verankern wie Remo Largo. Dabei hat er das Verständnis für die kindliche Entwicklung und deren Vielfalt nachhaltig erweitert und uns allen vor Augen geführt, dass wir uns an das Kind anpassen müssen und nicht das Kind sich an uns. Diese kind­orientierte Haltung ist das grosse Vermächtnis, das Remo Largo uns allen hinterlassen hat. Seine Stimme ist am 11. November 2020 verstummt, aber sein Menschenbild wird in uns weiterleben.

Remo Largo (1943–2020) Remo Largo wurde am 24. November 1943 in Winterthur geboren. Nach dem Studium der Medizin an der Universität Zürich und der Entwicklungs­pädiatrie an der University of California, Los Angeles, habilitierte er 1981 in Kinderheilkunde. Ab 1978 leitete Largo die Abteilung «Wachstum und Entwicklung» an der Universitäts-Kinderklinik Zürich. Von 1987 bis 1993 war er Leiter der dortigen allgemeinen Poliklinik. Er publizierte zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten sowie populärwissenschaftliche Fachbücher und wurde damit zum Bestsellerautor. Largo hatte viele Jahre mit gesundheitlichen Einschränkungen zu kämpfen und erlitt im Frühling 2020 seinen dritten Hirnschlag. Der Vater von drei Töchtern lebte zuletzt mit seiner zweiten Ehefrau in Uetliburg SG, wo er am 11. November im Alter von 76 Jahren verstarb.  Lesen Sie in diesem Dossier die wichtigsten Texte von Remo Largo und einen Nachruf von Chefredaktor Nik Niethammer.
Remo Largo (1943–2020)
Remo Largo wurde am 24. November 1943 in Winterthur geboren. Nach dem Studium der Medizin an der Universität Zürich und der Entwicklungs­pädiatrie an der University of California, Los Angeles, habilitierte er 1981 in Kinderheilkunde. Ab 1978 leitete Largo die Abteilung «Wachstum und Entwicklung» an der Universitäts-Kinderklinik Zürich. Von 1987 bis 1993 war er Leiter der dortigen allgemeinen Poliklinik. Er publizierte zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten sowie populärwissenschaftliche Fachbücher und wurde damit zum Bestsellerautor. Largo hatte viele Jahre mit gesundheitlichen Einschränkungen zu kämpfen und erlitt im Frühling 2020 seinen dritten Hirnschlag. Der Vater von drei Töchtern lebte zuletzt mit seiner zweiten Ehefrau in Uetliburg SG, wo er am 11. November im Alter von 76 Jahren verstarb.
Lesen Sie in diesem Dossier die wichtigsten Texte von Remo Largo und einen Nachruf von Chefredaktor Nik Niethammer. (Bild: Christian Grund/13 Photo)