«Wenn die Kinder gehen, müssen wir den Sinn des Lebens neu definieren» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Wenn die Kinder gehen, müssen wir den Sinn des Lebens neu definieren»

Lesedauer: 9 Minuten

Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello kennt die Gefühle von Eltern, wenn die Kinder flügge werden und in ein selbständiges Leben starten. Ein Gespräch über leere Nester, Boomerang-Kids und die Trauer der Väter.

Interview: Evelin Hartmann
Bilder: Christian Aeberhard / 13 Photo

«Das Praktischste an dieser Wohnung ist die zentrale Lage», sagt Pasqualina Perrig-Chiello und öffnet die Tür zu ihrem Balkon. Auf der Strasse rattert gerade ein Tram vorbei. Wir besuchen die Entwicklungspsychologin in ihrem Zuhause in Basel. Ihr Arbeitsort ist seit Langem Bern. «Unsere Söhne wollten nie aus Basel weg. So musste ich pendeln», sagt sie und lacht. Mittler­weile sind die Kinder gross und ein Babystuhl steht stets für den Enkel bereit. Während unseres Gesprächs erfahren wir, dass Pasqualina Perrig-Chiello schon als Studentin Mutter geworden ist und sich daher nie so sehr auf ihre Kinder fokussieren konnte, wie das späte Eltern mitunter tun. «Dadurch ist mir das Loslassen aber auch nicht so schwer­gefallen.»

Frau Perrig-Chiello, wenn die Kinder von zu Hause ausziehen, fallen viele Eltern in ein emotionales Loch. ­Psychologen sprechen vom ­sogenannten «Empty Nest Syndrom». Wie äussert sich dieses Syndrom?

In der Literatur werden dem Empty-Nest-Syndrom Begriffe wie Trauer, Einsamkeit, Verlassenheit, Leere oder Schmerz zugeschrieben. Diese Gefühle können sehr intensiv werden und bis zu einer psychischen Störung führen. Diese Pathologisierung eines normalen Lebensüberganges halte ich allerdings für überholt.

Wieso das?

Der Begriff ist in den 50er-Jahren entstanden, als es eine Tatsache war, dass viele Frauen Probleme mit diesem biografischen Schritt hatten. Aber damals waren die Frauen hauptsächlich Hausfrauen und Mütter und definierten sich fast ausschliesslich über diese Rollen. Ausserdem war der Auszug der Kinder meist definitiv. Sie zogen mit zirka 20 Jahren aus, verdienten ihr eigenes Geld und gründeten recht bald eine Familie. Transitionen, sprich biografische Übergänge, sind heute fliessender und nicht mehr von einem klaren Vorher und Nachher markiert.

Pasqualina Perrig-Chiello (im Gespräch mit der stellvertretenden Chefredaktorin Evelin Hartmann) ist Entwicklungspsychologin und Psychotherapeutin. Sie ist emeritierte Professorin für Psychologie an der Universität Bern und Präsidentin der Seniorenuniversität Bern. Pasqualina Perrig-Chiello hat zwei erwachsene Söhne und ein Enkelkind. Sie lebt mit ihrem Mann in Basel.
Pasqualina Perrig-Chiello (im Gespräch mit der stellvertretenden Chefredaktorin Evelin Hartmann) ist Entwicklungspsychologin und Psychotherapeutin. Sie ist emeritierte Professorin für Psychologie an der Universität Bern und Präsidentin der Seniorenuniversität Bern. Pasqualina Perrig-Chiello hat zwei erwachsene Söhne und ein Enkelkind. Sie lebt mit ihrem Mann in Basel.

Wie meinen Sie das?

Nehmen wir das Beispiel Einschulung. Früher wurden die Kinder mit etwa sieben Jahren eingeschult. Es gab ein Vorher – das Kind war zu Hause – und ein Nachher – das Kind ging zur Schule. Heute kommen ­viele Kinder früh in die Krippe, dann in den Kindergarten, bevor sie in die Schule übertreten. Die Übergänge sind fliessend, und das ist beim Auszug der Kinder ähnlich. Viele nehmen sich vielleicht fürs Studium oder für die Ausbildung eine Wohnung, kommen aber am Wochen­ende nach Hause. Wenn dann eine Familie gegründet wird und die Partnerschaft zerbricht, ist das Elternhaus meist die erste Anlaufstelle. Wir Experten sprechen heute viel eher vom «Never-Empty-Nest» oder den so genannten «Boomerang-Kids».

Also alles kein Problem?

Das möchte ich so nicht sagen. Aber der Auszug eines Kindes, der ja zu den ganz normalen Übergängen im Lebenslauf gehört, wird von psychisch gesunden Menschen gut verkraftet. Und viele Mütter sind heute – ab einem bestimmten Alter der Kinder – berufstätig, sie definieren sich nicht mehr einseitig über die Mutterrolle und müssen sich somit auch nicht mehr völlig neu erfinden, wenn die Kinder ausziehen.

Wie geht es denn den Vätern?

Das ist eine interessante Frage. Während die Frauen oftmals emotional vorbereitet sind auf dieses Ereignis, kommt es für viele Männer fast schon überraschend, wie eine Langzeitstudie belegt, die ich an der Universität Bern durchgeführt habe. In dieser haben wir die Teilnehmer einmal vor dem Auszug des letzten Kindes gefragt, wie es für sie wohl sein wird – und dann nochmals danach. Die Einschätzungen der Mütter, die überwiegend mit gemischten Gefühlen gerechnet haben, hat sich mit dem tatsächlich Erlebten weitestgehend gedeckt. Die der Väter nicht. Sie hatten mehrheitlich mit einer positiven Entwicklung gerechnet.

Was haben die Frauen anders gemacht?

Sie hatten sich etwa mit anderen Müttern ausgetauscht, die in diesem Prozess schon weiter waren. Und sich auch so vorbereitet.

Und die Väter waren enttäuscht?

Zumindest überrascht, da sie sich im Vorfeld mit dem Ereignis nicht mental auseinandergesetzt hatten. Sie haben die sozialen Belange wie Kindergeburtstage, Einschulung und so weiter weitgehend den Frauen überlassen – die sich so auf das Erwachsenwerden der Kinder vorbereiten konnten. Und plötzlich ist das Kind nicht mehr da und der Schock der Väter gross: Was mache ich jetzt als Vater? Habe ich etwas verpasst? ­Hätte ich mich mehr einbringen können? Zwar kommt der Sohn oder die Tochter einmal pro Woche nach Hause und bringt die schmutzige Wäsche, doch der Kontakt läuft über die Mutter. Die Männer sind noch immer allzu häufig abhängig von den Informationen, die über die Frauen laufen.

Also haben eher die Väter das ­Problem, nicht die Mütter?

In der Generation der heute 50- bis 60-Jährigen ist das so. Doch wie sich die Mutterrolle in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat, wandelt sich auch die Väterrolle. Junge Väter nehmen viel mehr Anteil an der Entwicklung ihrer Kinder und werden deshalb auch anders vorbereitet sein auf das Flüggewerden, als es ihre eigenen Väter waren.

Heute ziehen junge Erwachsene im Durchschnitt mit 24 Jahren aus – ziemlich spät im Vergleich zur ­vorhergehenden Generation. Woran liegt das?

Die Jugendzeit hat sich verlängert – die Ausbildungszeit, die Reife, um selbständig leben zu können, die finanzielle Unabhängigkeit, das tritt heute alles später ein. Ausserdem gibt es oftmals keinen Grund, früh aus einem autoritären, modrigen Elternhaus fliehen zu wollen, wie das zu meiner Zeit der Fall war. Die familialen Generationen haben sich noch nie so gut verstanden wie heute. Und damit fällt der Auszug in eine spezielle Lebensphase der Eltern.

Inwiefern speziell?

Wenn die Kinder ausziehen, sind die meisten Mütter und Väter Ende 40 bis Anfang 50. Dieser Zeitpunkt wird sich in den kommenden Jahren nach hinten verschieben. Zurzeit liegt er aber noch bei dieser Altersgruppe. Die meisten befinden sich in diesem Alter in einer sehr anspruchsvollen Lebensphase: Die Kinder werden flügge, die eigenen Eltern alt und vielleicht hilfsbedürftig, beruflich lastet sehr viel Verantwortung auf einem. Dazu kommt die eigene körperliche Veränderung der Wechseljahre. Man ist nicht mehr jung, man ist aber noch nicht alt. Und diese Zwischenphase veranlasst viele zu einer Bilanzierung: Was habe ich erreicht? Was will ich noch erreichen? Die Lebenszufriedenheits­kurve ist in dieser Altersspanne statistisch gesehen auf dem tiefsten Wert.

Die meisten Scheidungen finden ­ebenfalls in diesem Alter statt.

Was aber nicht allein auf den Auszug der Kinder zurückzuführen ist. Es kommen mehrere Faktoren zusammen. Es geht auch um die Partnerschaft, um einen selber, vielleicht um eine berufliche Veränderung. Diese vielen Anpassungsaufgaben belasten. Aber natürlich: Es ist eine grosse Herausforderung, sich über die ­Jahre nicht von seinem Partner zu entfremden. Solange die Kinder da sind, hat man ein gemeinsames Thema. Aber wenn dieses wegfällt, fängt nicht ­selten das grosse Anschweigen an. ­Beide haben sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt und viele merken: Wir haben nichts Verbindendes mehr. Daher tun Eltern gut daran, schon früh nicht nur Zeit und Energie in die Kinder und den Beruf zu investieren, sondern auch immer wieder in die Partnerschaft.

Nun verschiebt sich das Alter von Erstgebärenden immer weiter nach hinten. Ist es leichter, beim Auszug seines Kindes 60 anstatt 50 zu sein?

Zum Teil ja. In diesem Alter lasten nicht mehr so viele Verpflichtungen auf einem, man hat die Hände und den Kopf wieder freier. Auf der anderen Seite sind Kinder etwas extrem Sinnstiftendes. Und wir wissen aus der klinischen Forschung und Praxis: Je später, desto intensiver nimmt man die Elternschaft wahr. Aber es gibt eine einfache Botschaft, die mir sehr wichtig scheint: Die Kinder gehören uns nicht. Unsere Aufgabe ist es, selbständige und glückliche Menschen aus ihnen zu machen und sie dann gehen zu lassen. Dieses Loslassen ist ja kein absolutes Loslassen, sondern ein räumliches Distanzieren.

Aber machen wir unseren Kindern nicht die Ablösung schwer, indem wir es so gut mit ihnen haben wollen und es ihnen so schön wie möglich machen?

Absolut. Ich bin systemische Familientherapeutin und als solche ­möchte ich betonen: Es gibt die Elternebene und die Kinderebene – und das sollte so bleiben! Meine beiden erwachsenen Söhne sind nicht meine Freunde. Wir verstehen uns blendend, aber wir haben sehr viele Reibungspunkte. Wir wissen es aus der Generationenforschung: Wenn die ältere Generation die jüngere kopieren will, nur um zu gefallen, geht das schief. Wir sprechen in der Literatur von Generationenidentität, und diese ist ganz wichtig. Kopiert man sie, um zu gefallen, verhindert man, dass die Jüngeren ihre eigene Identität entwickeln und dafür einstehen können.

Haben Sie ein Beispiel aus Ihrem Arbeitsalltag?

Einige. Da ist beispielsweise die Mutter zweier Töchter, die sich wie ein Girlie anzog. Die eine ­Tochter fand es lange Zeit cool, die andere Tochter hat genau das Gegenteil gemacht und sich trotzig-demonstrativ im Öko-Stil gekleidet. Aber auch die Tochter, die das Verhalten der Mutter anfangs noch gut fand, hat sich irgendwann distanziert. Sie finden es nun beide peinlich, denn die Mutter wird ja immer älter. Auch als Professorin habe ich erlebt, wie sich mehr und mehr Eltern in die Angelegenheiten ihrer Kinder einmischen.

«Kinder gehören uns nicht», sagt Pasqualina Perrig-Chiello. 
«Kinder gehören uns nicht», sagt Pasqualina Perrig-Chiello. 

Erzählen Sie.

Ich hatte in den letzten Jahren meiner Lehrtätigkeit immer wieder Anrufe von Müttern, die ihre Töchter oder Söhne vor einer Prüfung krankgemeldet haben. Zu meiner Zeit hätte ich mich zutiefst geschämt, wenn meine Mutter bei der Professorin angerufen hätte. Andere Eltern haben ihre Kinder zu Infoveranstaltungen oder sogar in den Hörsaal begleitet.

Worauf führen Sie diesen Trend zurück?

Viele Männer und Frauen werden heute später Eltern und bekommen ein oder zwei Kinder, in die sie ihre sämtlichen Lebensziele legen. Sie definieren ihren Erfolg über ihre Entwicklung.

Wie kann man es besser machen?

Eltern sollten schon früh anfangen, ihren Kindern Verantwortung zu übertragen und sie in Selbstverantwortung zu schulen. Diese Fähigkeit zur Selbstverantwortung ist etwas, das viele Ausbildner und Professoren bei der jüngeren Generation vermissen. Die Schuld liegt dabei nicht bei den Jugendlichen, sondern ihren Eltern, die ihnen alles oder vieles abgenommen und sie nicht zur Selbständigkeit erzogen haben.

Wenn man im Teenageralter damit anfängt, ist es wohl zu spät.

Definitiv. Mütter und Väter können schon ihrem kleinen Kind etwas zutrauen und ihm Freiräume zum Experimentieren geben – und gleichwohl immer da sein, um das Kind aufzufangen, wenn es stolpert, wenn etwas mal danebengeht. Kontrolle ist wichtig, aber nicht bis ins kleinste Detail. Ich muss als Mutter nicht jede Minute des Tages wissen, mit wem mein Kind gerade zusammen ist. Dieser Freiraum und dieses Vertrauen prägt ein Kind nachhaltig und gibt ihm Sicherheit.

In der Pubertät ist das für viele Eltern nicht so leicht. 

In dieser Phase sollten sich Eltern die Frage stellen: Wie viel Reibung vertrage ich? Wie sehr vertraue ich meinem Kind? Welche Freiräume kann ich ihm zugestehen und dabei trotzdem die Kontrolle behalten? Nehmen wir das Beispiel Ausgang: Eltern sollten ihren Teenagern die Möglichkeit geben, auszugehen, aber im Vorfeld feste Abmachungen mit ihnen treffen. «Um 22 Uhr bis du zu Hause», «Du bist nie allein unterwegs». Diese Abmachungen können sehr individuell und vom Wohnort abhängig getroffen werden. Es müssen nicht viele Einschränkungen sein, aber diese wenigen sind zentral und unumstösslich. Und das muss das Kind begreifen.

Was halten Sie noch für wichtig?

Kinder brauchen gewisse Leitplanken in Bezug auf Werte. Es ist empirisch erwiesen: wenn man den Kindern Werte vermittelt und darauf baut, dass die Kinder diese auch verinnerlichen, wollen sie einen nicht enttäuschen. Heranwachsende fragen sich immer wieder: Wenn ich dieses oder jenes tue, was sagt dann Mama oder Papa? Wichtig scheint mir auch, seinem Kind zu vertrauen. Und nicht zuletzt sollte man bei sich selbst ansetzen. Wer sich in anderen Rollen sieht als ausschliesslich der Mutterrolle, bereitet sich auf die Zeit vor, in der einen die Kinder nicht mehr so sehr brauchen, und kann besser loslassen.

Wie kann ich ein gutes Verhältnis zu meinen Kindern halten, wenn sie ­ausgezogen sind?

Wichtig scheint mir, feste Rituale oder Zeiten einzuplanen, um nicht Gefahr zu laufen, ungelegen zu kommen. Das kann ein monatlicher Besuch sein oder Vater und Tochter gehen alle zwei Wochen miteinander Kaffee trinken. Vielleicht ist auch von beiden Seiten das Bedürfnis da, sich öfter zu sehen. Starke familiäre Bindungen lassen sich durch räumliche Distanz nicht auflösen. Auch wenn man sich ein paar Wochen oder sogar einen Monat nicht meldet, wissen beide, dass es keine böse Absicht ist, denn man hat Vertrauen ineinander.

Gesetzt den Fall, der Auszug des ­Kindes schmerzt doch sehr. 

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte mich über Eltern, die so empfinden, nicht despektierlich äussern. Vielleicht hilft es solch einer Mutter oder solch einem Vater schon, das Gespräch mit Gleichgesinnten zu suchen, sich auszutauschen. Vielleicht braucht er oder sie aber auch zwei, drei Sitzungen bei einem Therapeuten, einer Therapeutin, um sich besser zu fühlen.

Was sagen Sie einem Vater oder einer Mutter, der der die aus solch einem Grund zu Ihnen kommt?

Dass es eine ungeheure Chance ist, ihre Identität neu zu definieren. Sie dürfen durchaus trauern, sie brauchen ihre Zeit, um etwas abzuschlies­sen. Es ist eine Trauerphase von etwas, das man lange genossen hat. Das ist ein Verlust. Gleichzeitig sollten sie nicht untätig sein und sich mit Gleichgesinnten austauschen. Wenn die Kinder gehen, müssen wir den Sinn des Lebens neu definieren.

Evelin Hartmann
ist stellvertretende Chefredaktorin von Fritz+Fränzi. Sie wohnt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in Luzern.

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