Herr Gürber, können Eltern Straftaten verhindern? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Herr Gürber, können Eltern Straftaten verhindern?

Lesedauer: 5 Minuten

Hansueli Gürber war 30 Jahre lang Jugendanwalt und bekannt für seine unkonventionellen Methoden, die Jugendlichen einen Weg in ein besseres Leben ermöglichen sollten. Als er beim Fall «Carlos» in die Kritik geriet, ging vergessen, wie viele Jugendliche er erfolgreich wieder eingliedern konnte. Wir sprachen mit Hansueli Gürber über Erziehungsfragen.

Herr Gürber, bei vielen Jugendlichen die als Klienten zu Ihnen kamen, ist schon in der frühen Kindheit einiges schiefgelaufen. Die Frage, die vielen Eltern auf dem Herzen liegt: Wie erziehe ich meine Kinder so, dass Sie nicht straffällig werden?

Da ist natürlich eine Mischung ganz vieler Faktoren wichtig. Ganz banal: Sie sollten Ihr Kind gernhaben. Auch und erst recht, wenn es Schwierigkeiten gibt. Sie sollten als Eltern homogen auftreten, damit Sie ihr Kind nicht gegeneinander ausspielen kann. Und sie müssen immer wieder neu die richtige Mischung finden zwischen Behüten und Verantwortung abgeben.

Das klingt ganz schön schwierig…

Ja, aber ich möchte Eltern auch ein bisschen die Angst nehmen. Zwischen Überbehüten und Vernachlässigen liegt eine sehr, sehr grosse Bandbreite, und man darf beim Erziehen auch Fehler machen, ohne dass es schwerwiegende Auswirkungen hat. 

Sind es eher die vernachlässigten oder die überbehüteten Kinder, die straffällig werden?

Die überbehüteten Kinder waren klar in der Minderheit. Aber natürlich gab es diese auch – gerade in der Heroinzeit sind oft Kinder in die Drogenszene abgerutscht, die von ihren Eltern in falsche Lehren gepresst wurden und den Anforderungen nicht gerecht werden konnten.

«Eltern muss es gelingen eine natürliche Autorität aufzubauen, bevor die Kinder ihnen körperlich überlegen sind.»

Hansueli Gürber

Und die anderen? Was waren dort die Erziehungsfehler?

90 Prozent der Jugendlichen, die zu mir kamen, haben kleinere Delikte begangen, Grenzen ausgelotet und dann dazugelernt.  Dementsprechend habe ich sie auch oft nur einmal gesehen. Nur bei etwa zehn Prozent ist wirklich etwas schiefgelaufen – bei sechs Prozent von ihnen mussten wir Massnahmen anordnen. Bei diesen gab es zu Hause oft krasse Erziehungsfehler. Einige Jugendliche waren es von klein auf gewohnt, tun und machen zu können, was sie wollten. Alle ihre Forderungen wurden erfüllt, wenn sie nur laut genug schrien. Diese Kinder lernen falsche Muster. Und das kann, schwerwiegende Folgen haben, weil sie mit dieser Strategie in der Schule und später in der Lehre Probleme bekommen. Ein anderes falsches Erziehungsmittel ist das regelmässige Anwenden von körperlicher Gewalt von den Eltern. Wenn mit zunehmendem Alter das Kräfteverhältnis plötzlich kippt und die Jugendlichen eines Tages stärker sind als ihre Eltern, haben letztere nichts mehr zu bestellen.

Haben Sie ein Beispiel, wohin solche Erziehungsfehler führen können?

Bei einem meiner ehemaligen Klienten hat die ständige Forderungshaltung dazu geführt, dass er schliesslich am Arbeitsplatz seiner Eltern aufgetaucht ist und drohte, er werde einen Riesenradau machen, wenn sie ihm kein Geld gäben. Innerhalb weniger Monate hatten sich die Eltern mit über 40.000 Franken verschuldet. Eltern muss es gelingen eine natürliche Autorität aufzubauen, bevor die Kinder ihnen körperlich überlegen sind.

Ist ein Erziehen ohne Strafen bzw. das Androhen von Strafen möglich?

Ich würde sagen Nein. Jugendliche probieren, provozieren und testen Grenzen aus. Aber es kommt auf die Art der Strafen an. Natürlich bin ich gegen Prügelstrafen. Aber ich bin für Konsequenz. Das heisst, wenn ich eine Strafe androhe, muss ich auch bereit sein, sie durchzuziehen. Einmal habe ich eine Mutter auf dem Spielplatz beobachtet, die ihrem Sohn immer wieder androhte, dass sie heimgehen würden, wenn er jetzt nicht brav sei. Dabei sah er doch, dass sie ins Gespräch mit einer anderen Mutter vertieft war, und keineswegs heimgehen wollte und sein Handeln daher keine Konsequenzen nach sich ziehen würde.

Sie sagen, dass Strafen wichtig sind, diese den Jugendlichen aber nicht klein machen dürfen. Wie geht so etwas?

Vor allem, indem die Strafen begründet werden und für das Kind gut nachvollziehbar sind. Ein Beispiel: Der Jugendliche darf am nächsten Wochenende nicht mehr raus, weil er diesmal nachts um 2 zu Hause war, anstatt, wie abgemacht, um 23 Uhr. Fragen Sie sich als Eltern, bevor Sie eine solche Strafe aussprechen: Ist diese Strafe sinnvoll und nachvollziehbar, oder schiesse ich vielleicht gerade übers Ziel hinaus, weil ich hässig bin?

Als Jugendanwalt standen Sie jedes Mal vor der Entscheidung, ob ein Jugendlicher eher eine unterstützende und erzieherische Massnahme braucht, oder eine Strafe. Wie haben Sie das herausgefunden?

Vieles lief über die nonverbale Kommunikation. Wie begrüsst mich der Jugendliche? Schaut er zu Boden oder tritt er eher provokativ auf? Ich habe den Jugendlichen Fragen gestellt, um zu verstehen, wo sie gerade stehen in ihrem Leben. Die Art und Weise wie sie erzählt haben, gab mir Aufschluss darüber, ob grössere Probleme bestehen. Erstaunlicherweise waren es oft die Jugendlichen, die wirklich in Schwierigkeiten steckten, die sofort mit der Sprache rausrückten und erzählten.

Weil sie so froh waren, endlich jemanden zum Reden zu haben?

Vielleicht. Ich glaube aber auch, dass es vielen Jugendlichen hilft, dass sich endlich etwas bewegt, wenn sie delinquent werden. Damit will ich nicht sagen, dass sie das bewusst entscheiden. Aber dass nur dann etwas passiert, spielt sicher oft mit.

«Sie werden bei jedem Jugendlichen etwas Liebenswertes entdecken, wenn sie genau hinsehen.»

Hansueli Gürber

Sie haben Ihre Arbeit an den Leitsätzen «ich habe dich gern», «du bist mir wichtig» und «ich traue dir etwas zu» ausgerichtet. Sind es dieselben Sätze, die für Sie auch bei der Erziehung ihrer eigenen fünf Kinder galten?

Machen Sie aus dem ersten Satz ein „ich liebe dich“ und dann stimmt es. Kinder brauchen unsere Zuneigung und unsere Unterstützung und beides besonders dann, wenn sie in Schwierigkeiten sind, wenn sie zum Beispiel schlechte Noten schreiben. 

Nun haben aber Ihre Klienten viel Schlimmeres verbrochen. Ist es nicht schwierig jemanden gern zu haben, der beispielsweise reihenweise Menschen ausgeraubt hat?

Eigentlich nicht. Sie werden bei jedem Jugendlichen etwas Liebenswertes entdecken, wenn sie genau hinsehen. Und auch das Elend, das oft hinter ihren Taten steckt. Die Wertvorstellungen, welche die Jugendlichen mitbringen, stimmen in den allermeisten Fällen mit unseren überein. Die meisten wissen, dass sie etwas Schlechtes getan haben. Manchmal muss man die Perspektive ein wenig verändern.

Das bedeutet?

Zum Beispiel fragte ich den Jugendlichen, der andere ausgeraubt hatte, wie er reagieren würde, wenn sein Bruder ausgeraubt werden würde. Das generierte dann oft sehr heftige Reaktionen.

Seit dem Fall Carlos beobachten viele in der Anwendung des Schweizer Jugendstrafrechts einen Paradigmenwechsel. Weg von den erzieherischen Massnahmen hin zu den strafenden. Können Sie uns das erklären?

Ich weiss,  dass die individuellen Lösungen – ich mag das Wort Sondersettings nicht – stark zurück gehen. Ich finde das sehr schade. Diese individuellen Lösungen wurden von mir bei Jugendlichen angewandt, die sonst überall rausgefallen waren. In den 20 bis 30 Fällen, bei denen ich sie angewendet habe, waren sie, bis auf einen einzigen Fall, sehr wirksam. Diese schwierigen Jugendlichen kommen heute schon ab sechzehn Jahren zum Beispiel ins Massnahmevollzugszentrum Uitikon. Das stellt für die Jugendanwälte kein grosses Risiko dar. Aber bringt es auch etwas, um die Jugendlichen von der Kriminalität fernzuhalten?

Wie hat sich Ihr Verhältnis zu den Medien durch den Fall «Carlos» verändert?

Der Shitstorm damals war eine Schweinerei, vor allem weil ich vor der Berichterstattung nicht um eine Stellungnahme angefragt wurde, was das Mindeste gewesen wäre. Davor pflegte ich während meiner 13-jährigen Tätigkeit als Pressesprecher der Zürcher Jugendanwaltschaften aber ein sehr gutes Verhältnis zu den Journalisten und pflege dieses auch heute wieder. Als jetzt das Buch erschien, gewährte ich sogar dem BLICK wieder ein Interview. Zugegeben, ich war etwas nervös, ob man mich diesmal fair behandeln würde. Aber ich wurde nicht enttäuscht.

Bild: zVg


Ursula Eichenberger: Der Weichensteller – Jugendanwalt Gürber.
Ursula Eichenberger: Der Weichensteller – Jugendanwalt Gürber. Wörterseh, 2016. 224 Seiten, 36.90 Franken. 

Die Journalistin beleuchtet den Mensch Gürber aus unterschiedlichsten Perspektiven. Das Buch besteht aus einem langen Interview mit Gürber, unterbrochen von Fallbeispielen von Jugendlichen und Aussagen von Menschen, die sich zum Anwalt und Privatmenschen Hansueli Gürber äussern.


Weiterlesen:

Was tun, wenn das Kind aggressiv ist? Unser grosses Dossier-Thema im Mai 2018. Sie können das Heft hier bestellen.
Was tun, wenn das Kind aggressiv ist? Unser grosses Dossier-Thema im Mai 2018. Sie können das Heft hier bestellen.