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Ein gutes Gefühl: Wie lernt man Empathie?

Lesedauer: 12 Minuten

Die Fähigkeit zur Empathie steckt in ­unseren Genen. Doch nur in einer ­Umgebung, in der Gefühle und Mitgefühl vorgelebt werden, kann sie sich entwickeln. Wie lernen Kinder, andere zu verstehen, ihre Gefühle zu lesen und entsprechend zu handeln?

Text: Julia Meyer-Hermann
Bilder: Herbert Zimmermann / 13 Photo

Neulich im Theater, bei einer Inszenierung von Astrid Lindgrens «Ronja Räubertochter». Auf der Bühne steht Räuberhauptmann Mattis und brüllt. Er rauft sich die Haare. Er schluchzt. Glatzen-Peer, sein väterlicher Freund, ist tot! «Er war immer da», schreit der baumgrosse Mann. «Und jetzt ist er nicht mehr da.» Auf dem Sitzplatz neben mir schnauft es laut auf. Kurz danach greift die kleine, verschwitzte Hand meines Sohns nach mir.

Später im Foyer blicke ich in das erhitzte Gesicht des Sechsjährigen. Carls Wangen glühen, seine Stimme überschlägt sich förmlich. Welche Angst Carl gehabt hat, als Ronja sich im Nebel fürchtete! Obwohl er doch wusste, dass ihr nichts zustösst. Und wie glücklich er über ihren Frühlingsschrei war. «Als ob mir selbst das passiert. So ganz in echt», sagt Carl.

Neurologen nehmen an, dass wir mit der Voraussetzung zur Empathie geboren ­werden. Das legt nahe, dass diese evolutionär wichtig ist.

«Schon cool, die Sache mit der Empathie», ergänzt seine ältere Schwester. «Ohne Einfühlungsvermögen würden Geschichten überhaupt nicht funktionieren.» Dann beginnt die Zwölfjährige – im Tonfall ganz die allwissende Ältere –, ihrem jüngeren Bruder zu erklären, was Empathie überhaupt ist. «Weisst du noch, als du zu Mama gesagt hast, dass sie so einen schönen wabbeligen Bauch hätte?», fragt Fanny.

Ich zucke leicht zusammen. Worauf will sie hinaus? Ihr Bruder jedenfalls nickt heftig. «Da habe ich mich sofort erschreckt, weil ich gespürt habe, wie Mama sich bei so einer Aussage fühlen muss. Das war also sehr empathisch von mir und nicht so empathisch von dir.» Carl runzelt die Stirn, schiebt die Unterlippe vor. Ich verzichte darauf, meiner ­Gros­sen zu erklären, dass ihre Erklärung nun auch keine Höchstleistung an Einfühlsamkeit war.

In den Genen verankert

Aber kann man einem Sechsjährigen überhaupt begreiflich machen, was Empathie ist? Warum weiss man, was ein anderer fühlt, bevor derjenige es sagt? Was leistet das menschliche Gehirn an dieser ­Stelle? Das ist immerhin auch für Erwachsene oft ein Mysterium. Ich erinnere Carl an eine Szene, in der es zu einem Streit zwischen Ronja und ihrem Vater kam.

«Da hat sich mein Magen zusammengezogen», sagt er. «Meiner auch», erwidere ich. «Und lägen wir beide in einer Maschine, mit der man in unseren Kopf sehen kann, dann würden bei uns im Gehirn die gleichen Punkte leuchten. Man könnte sehen, dass wir den Kummer fühlen, den auch Ronja in diesem Moment fühlt.»

Seit Neurologen Mitte der 1990er-Jahre entdeckt haben, dass bestimmte Zellen im Gehirn, die sogenannten «Spiegelzellen», das Erleben und die Emotionen von anderen widerspiegeln, wird diese Fähigkeit des Menschen von Medizinern, Biologen, Psychologen und Pädagogen erforscht.

Wie funktioniert diese intuitive Verbindung zwischen Individuen? Natürlich gibt es relativ offensichtliche Gefühls­regungen wie Wut oder grosse ­Freude.

Aber warum können wir auch weniger deutliche Emotionen wie Verlegenheit oder Mutlosigkeit bei Personen spüren, die wir nicht einmal kennen? Und vor allem: Wofür brauchen wir das überhaupt? Neuropsychologen nehmen an, dass wir mit der Voraussetzung zur Empathie geboren ­werden, dass sie zu unserer genetischen Grundausstattung gehört. Das legt den Schluss nahe, dass diese evolutionäre Ausrüstung wichtig war und ist.

«Menschen sind soziale Wesen. Aus evolutionsbiologischer Perspektive ist Empathie grundlegend, um unser gemeinsames Zusammen-leben und damit unser Überleben zu sichern», sagt die Neuropsychologin Nora Raschle. Die Professorin untersucht an der Universität Zürich die Hirnentwicklung bei Kindern und Jugendlichen und führt dabei auch Studien zum Thema Störungen des Sozialverhaltens durch.

«Dass Menschen sich empathisch in andere hineinversetzen können, wird als Grundlage dafür angesehen, die Gefühle anderer zu verstehen und entsprechend zu handeln.» Empathie ist ihrer Ansicht nach die Basis für ein prosoziales Verhalten. Damit wird in der Psychologie ein Verhalten bezeichnet, das für die Mitmenschen unternommen wird oder sich an deren Wohlergehen orientiert.

Der Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl

Im allgemeinen Sprachgebrauch werden Empathie und Mitgefühl oft gleichbedeutend verwendet. Experten unterscheiden zwischen den  beiden. «Empathie ist kein Gefühl, es ist ein innerer Prozess», erklärt Raschle. Es ist die Fähigkeit, jede Art von Emotion, sei sie negativ oder positiv, nachempfinden zu können.

Mitgefühl dagegen ist eine Konsequenz aus Empathie, geht aber darüber hinaus. «Da geht es darum, die negativen Gefühle einer anderen Person zu erkennen und sich zu sorgen.» Beides, Empathie und Mitgefühl, wird häufig einem prosozialen Verhalten wie beispielsweise Teilen, Trösten oder Helfen vorausgesetzt.

David Lätsch, Psychologieprofessor am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, hält auch die Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Formen von Empathie für wichtig: affektiver und kognitiver Empathie.

Empathie und Mitgefühl werden häufig prosozialem Verhalten wie Teilen, Helfen oder Trösten vorausgesetzt.

Bei der affektiven Empathie empfindet man mit, was das Gegenüber fühlt. Das ist nicht zu verwechseln mit der sogenannten Gefühlsansteckung, die es häufiger in Krabbelgruppen gibt: Ein Säugling weint, alle anderen stimmen ein. Dahinter steckt kein Hineinfühlen oder Mitfühlen, den Babys ist in diesem Alter noch nicht klar, dass es um den anderen geht.

Das ist erst möglich, wenn Kinder ein Bewusstsein für das eigene Selbst entwickeln und ausserdem zu verstehen beginnen, dass andere Menschen möglicherweise etwas anderes denken als sie selbst. Entwicklungspsychologen untersuchen seit Jahrzehnten, wann diese Fähigkeit, die sogenannte «Theory of Mind», ausgebildet wird.

Eine Möglichkeit dazu ist der «False-Belief-Test»: Er überprüft, ob ein Kind erkennt, ob andere etwas glauben, von dem es selbst weiss, dass es falsch ist. Beim «Schokoladentest» wird einem drei- bis sechsjährigen Kind etwa gezeigt, wie die Schokoriegel in einer Packung durch Stifte ersetzt werden.

Dann wird es gefragt, was wohl ein anderes Kind in der Packung vermuten würde. Die meisten drei- bis vierjährigen Kinder antworten darauf: Stifte. Ihnen ist noch nicht klar, dass ein anderes Kind nicht wissen kann, dass der Inhalt der Verpackung ausgetauscht wurde.

Die Fähigkeit, die richtigen Schlüsse zu ziehen

Diese Erkenntnis setzt in der Regel bei vier- bis sechsjährigen Kindern ein, die dann auch in der Lage sind, affektive Empathie zu empfinden. «Sie verstehen zum Beispiel, dass ein anderes Kind traurig ist, sind sich aber bewusst, dass sie selbst nicht in der Situation sind», sagt David Lätsch.

Die kognitive Empathie ist die Fähigkeit zu entschlüsseln, was der andere in dem Moment denkt oder vorhat. Man braucht sie auch, um die richtigen Schlüsse für das eigene Verhalten ziehen zu können.

Mitgefühl folgt zwangsläufig weder aus der einen noch der anderen Form von Empathie. «Es gibt viele Situationen, in denen wir affektiv und kognitiv empathisch sind, aber kein Mitgefühl empfinden. Wenn wir bei einem Fussballspiel sehen, wie die gegnerische Mannschaft verliert, können wir zwar empathisch nachempfinden, wie sich deren Fans fühlen. Aber Mitgefühl haben wir nicht, im Gegenteil, wir freuen uns.» 

Kinder müssen nun mal ­experimentieren. Manchmal auch mit den Gefühlen ­anderer.

Für diese Erkenntnis reichen, das wissen die meisten Eltern, auch Szenen aus dem Familienalltag: Der Sohn lacht lauthals, als seine Schwester sich Tomatensauce über das Lieblingsshirt schüttet. Die weint zwar fast, das sieht er auch. Aber endlich ist er mal nicht derjenige, der kleckert. Die Zwölfjährige spielt am Klavier das Stück fehlerfrei, an dem der Sechsjährige stunden und tagelang vergeblich geübt hat.

Obwohl sie sieht, wie wütend ihn das macht. «Das gehört dazu», sagt ihr Vater, und dass ich ihnen solche Aussetzer zugestehen muss. Kinder müssen nun einmal experimentieren, manchmal auch mit den Gefühlen anderer.

Soll ich deshalb hinnehmen, wenn mein Sohn beim Spielen ein anderes Kind ausschliesst? Soll ich meine Tochter allein entscheiden lassen, ob sie eine einzige Klassenkameradin nicht zum Geburtstag einlädt und alle anderen schon? Für mich sind solche Situationen immer ein Grenzgang. Ich möchte, dass meine Kinder wissen, was für Konsequenzen ihr Verhalten hat.

Also mische ich mich ein und rede mit ihnen darüber. «Wie fühlst du dich, wenn dir etwas sehr wichtig ist und ich dir dann absichtlich vorführe, dass ich es besser kann?», frage ich die Grosse. «Wie hast du dich neulich gefühlt, als du der Einzige warst, der nicht mitspielen durfte?», frage ich den Sohn. Der Effekt ist oft: ­Meine Kinder sind zunächst wütend auf mich, weil sie sich «wegen mir» schlecht fühlen.

Aber das hält nicht lange an. Fast immer ändern sie direkt nach so einem «empathischen Augenöffner» ihr Verhalten und beziehen die Perspektive des anderen mit ein. 

Lebenslanges Training

Mitgefühl und prosoziales Verhalten kann man trainieren. Man sollte es auch. «Sozioemotionale schaften zu knüpfen, Beziehungen zu entwickeln, Eltern zu sein. Sie sind darüber hinaus auch entscheidend dafür, wie gut wir uns später im Beruf vernetzen und wie wahrscheinlich wir einen Job zu halten vermögen», sagt Neuropsychologin Nora Raschle. Anders gesagt: Empathie hilft auch dabei, erfolgreich zu sein.

In Dänemark wird Empathie seit 2019 als Schulfach unterrichtet. Initiiert wurde dieser Unterricht unter anderem vom Schriftsteller Peter Høeg. Zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Pädagogen Jesper Juul hat Høeg eine Initiative gegründet, der es auch darum geht, in einer Gruppe Empathie füreinander zu entwickeln.

«Kinder und Erwachsene brauchen gleichermas-sen Unterstützung darin, ihr Vermögen, in sich zu ruhen, zu stärken. Und das kann man üben», schreiben die Autoren in ihrem Buch «Miteinander. Wie Empathie Kinder stark macht». 

Regeln funktionieren dann, wenn sie von allen als fair empfunden werden. Dazu braucht es aber Empathie.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch das Projekt der kanadischen Organisation «Roots of Empathy». David Lätsch leitete 2018 dazu eine Studie in der Schweiz. Dabei ging es darum, Primarschülern durch die Begegnung mit Babys mehr Einfühlungsvermögen zu vermitteln. «Uns hat interessiert, wie man über die Förderung von Empathie das Sozialverhalten stärken und mittel- bis langfristig prägen kann.»

Über einen reinen Verbote-Katalog lässt sich, so Lätsch, ein Klassenklima kaum verbessern. Regeln funktionieren dann, wenn sie von allen als fair empfunden werden. Dazu aber müsste man zunächst empathisch nachempfinden können, was eine Regel aus meiner und aus der Perspektive einer anderen Person bedeutet. «Über das empathische Vorstellungsvermögen kann man ausserdem erkennen, warum es sich lohnt, eine Regel einzuhalten.»

Das «Roots of Empathy»-Experiment war erfolgreich: Auch ein Jahr nachdem das Training abgeschlossen war, hatte sich das Einfühlungsvermögen bei den Kindern erkennbar verbessert. Sie halfen und teilten mehr und waren im Zusammen­leben seltener aggressiv.

Unabdingbar: der Zugang zum eigenen Innenleben

Empathie ist zwar angeboren, muss aber gefördert werden, lautet die Schlussfolgerung. Dieses «Training» beginnt schon kurz nach der Geburt, wenn Babys über die Mimik und Sprache ihrer Eltern die Gefühlswelt kennenlernen. Mama lächelt immer, wenn sie mich hochnimmt. Papa macht «Schsch», wenn er mich ins Bett bringt.

Beide fragen: Wie geht es dir? Bist du müde? Hast du Hunger? «Kinder lernen von ihren Eltern, wie Emotionen benannt werden, und auch, wie mit ihnen umgegangen wird», sagt Nora Raschle. «Das Verständnis für die eigenen Gefühle bildet die Grundvoraussetzung dafür, die Gefühle anderer Personen einschätzen zu können.» Anders gesagt: Wer keinen Zugang zu seinem eigenen Innen­leben hat, wird auch das seines Gegenübers nicht verstehen können.

«Ich versuche den Eltern immer klar zu machen, dass ihre Kinder nur dann mit allen Gefühlen umgehen können, wenn sie die ganze Bandbreite kennenlernen dürfen», sagt Caroline Märki. Die Eltern- und Erwachsenenbildnerin leitet seit über zehn Jahren die Schweizer Zentrale der Familienberatungsstelle «Familylab».

Zu ihr kommen Familien, die Probleme mit dem Sozialverhalten ihrer Kinder haben. Die Eltern wissen oft nicht mehr, mit welchen Regeln und Verboten sie den Nachwuchs noch zur Raison rufen sollen. «Häufig stellt sich dann heraus, dass bestimmte Gefühle wie Neid oder Wut als verboten gelten.» Wer sich aber mit solchen vermeintlich negativen Emotionen nicht beschäftigt, lernt nicht, damit umzugehen.

«Kinder, Jugendliche oder Erwachsene mit antisozialen Verhaltenszügen haben häufig Mühe, die eigenen Gefühle oder die anderer einschätzen zu können», sagt auch die Psychologieprofessorin Nora Raschle.

Jungen erhalten weniger Inputs, wie Männer mit Emotionen umgehen

Eltern sind die ersten empathischen Vorbilder, die ein Kind kennenlernt. Zwischen elterlichem und kindlichem Einfühlungsvermögen gibt es immer einen Zusammenhang, sagt Empathieforscher David Lätsch. Das Vorleben von Empathie ist dabei ein zentraler Aspekt, die emotionale Bestärkung des Kindes ein anderer.

70 bis 80 Prozent der 6- bis 11-jährigen Kinder und der 12- bis 16-jährigen Jugendlichen finden Werte wie Empathie, Solidarität, Respekt und Hilfsbereitschaft wichtig, das hat eine Studie im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung in Deutschland ergeben. 

Wer Empathie im ­frühen Kindesalter nicht erlernt hat, kann sich diese auch noch als Erwachsener antrainieren.

Die Mädchen haben sich in dieser Studie als mitfühlender und hilfsbereiter dargestellt als ihre männlichen Altersgenossen. «Das liegt auch daran, dass Jungen viel weniger Inputs bekommen, wie ihre Väter und ganz allgemein Männer mit Emotionen umgehen. Buben erhalten auch nicht so viel Hilfe dabei, wie sie Gefühle wie Wut zeigen können», sagt Caroline Märki.

Ihnen fehlten dafür oftmals die Worte, stattdessen reagierten sie mit Aggression. «Dem Kind muss geholfen werden, seine Frustration genau zu bestimmen und sie in einer weniger destruktiven Art auszudrücken.» Das Bewusstsein dafür ist laut ­Märki gestiegen: Viele junge Väter arbeiteten inzwischen daran, ein anderes, empathischeres Männerbild zu etablieren.

Wer Empathie nicht im frühen Kindesalter erlernen konnte und als Erwachsener bei sich Defizite bemerkt – vielleicht auch ausgelöst durch die Elternrolle –, der muss nicht mit diesem Manko leben. Das menschliche Gehirn ist in der Lage, sich ein Leben lang zu verändern und an neue Verhältnisse anzupassen, das zeigt auch eine Studie des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften.

Dort wurde untersucht, wie sich ein Mitgefühlstraining bei Erwachsenen auswirkte. Bei diesem Mentaltraining wurde unter anderem mit speziell entwickelten Meditations- und Achtsamkeitsübungen gearbeitet. Das Ergebnis war, dass die Empathiefähigkeit messbar stieg und bei den Studienteilnehmern ausserdem der Stresslevel und die Entzündungswerte im Körper sanken.

Es geht nicht ums Gewinnen

«Empathie hat sehr viel mit der Art und Weise zu tun, mit der wir miteinander kommunizieren und mit welcher Haltung wir einander begegnen», sagt Andrea Spring. Die Logopädin arbeitet seit etlichen ­Jahren als Trainerin für gewaltfreie Kommunikation. Das Prinzip hat der US-amerikanische Psychologe Marshall B. Rosenberg entwickelt. Es geht darum, sich aufrichtig mitzuteilen und einander empathisch zuzuhören.

Eine Bitte, die wir vortragen, löst bei einem Zuhörer ­etwas ganz anderes aus als eine Forderung.

Dabei wird die Aufmerksamkeit auf die Gefühle und Bedürfnisse gelegt, sowohl auf die eigenen als auch auf die des Gegenübers. Einer von Marshalls Leitsätzen lautet: Eine Bitte, die wir vortragen, löst etwas anderes bei anderen Menschen aus als eine Forderung. Hinter der Bitte verbirgt sich auch das Bedürfnis des Sprechers, das ein empathisch Zuhörender erkennen kann.

Ein anderer Leitsatz ist: ­Worte können Fenster sein, durch die sich Menschen füreinander öffnen. Und sie können Mauern errichten, können wehtun oder trennen. Andrea Spring formuliert das Ziel so: «Verbindung und eine passende Lösung finden wir dann, wenn es eine Bereitschaft dafür gibt, dass die Bedürfnisse beider Seiten gehört werden und es so keine Gewinner und Verlierer gibt.»

Zugegeben, gerade im Umgang mit Kindern erscheint dieses Modell sehr idealistisch, vielleicht sogar unerreichbar. Aber wir haben Zeit, daran zu arbeiten. «Dem Menschen eigen ist die Tatsache, dass unsere Entwicklung ein sehr lang andauernder Prozess ist», sagt Nora Raschle.

Aus Sicht der Neurowissenschaften ist die menschliche Gehirnreife erst etwa mit 25 Jahren erreicht. Wie empathisch wir dann sind und wie prosozial wir uns dann verhalten, ist ein Resultat genetischer Einflüsse, unserer Umwelt und unseren Erfahrungen sowie der Interaktion von allem.

Und während Eltern viele Jahre für die Betreuung und Unterstützung ihrer Kinder sorgen und als primäre Bezugspersonen die Entwicklung sozioemotionaler Fähigkeiten prägen, schwindet irgendwann mit der beginnenden Pubertät dieser Einfluss. «Dann wird die Peergroup immer ausschlaggebender, die Freunde, die Schule, die erste Beziehung», sagt David Lätsch. 

Die Sache mit der Empathie, ­sagte kürzlich meine grosse Tochter, die nerve sie manchmal. Immer ­dieses Mitfühlen-Müssen, obwohl sie gerade müde sei. All diese Freundinnen, die über Whatsapp schrieben und klagten. So ein Stress. Ich war ein bisschen überrascht, gab ihr dann aber Recht.

Ich legte mich aufs Sofa und machte zehn Minuten lang nichts. Keinen Kakao, keinen Snack-teller, kein Vorlesen, keine Hausaufgabenhilfe. Dann fanden die Kinder, es reiche jetzt mit meiner Empathiepause. Aber sie klangen sehr einfühlsam dabei. 

Julia Meyer-Hermann
lebt mit ihrer Tochter und ihrem Sohn in Hannover. Ihre Schwerpunkte sind Wissenschafts- und Psychologiethemen.

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