«Es braucht äusserst schwierige Eltern, um Kinder zu verderben» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Es braucht äusserst schwierige Eltern, um Kinder zu verderben»

Lesedauer: 3 Minuten

Der Familientherapeut Daniel Niederberger beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Frage, wie sich Erziehung seit den 1960ern verändert hat. Dabei spielt das Thema Schuldgefühle eine grosse Rolle.

Interview: Jana Avanzini
Bild: Salvatore Vinci / 13 Photo

Herr Niederberger, wie oft sind Sie in Ihrem Alltag als Familientherapeut mit Schuldgefühlen von Eltern ­konfrontiert?

Fast täglich. Sagen wir bei 80 bis 90 Prozent der mittelständischen Familien mit Erziehungsproblemen sind Schuldgefühle ein Thema. Und dabei spreche ich von Familien ohne traumatische Geschichten, bei denen die Schuldgefühle aus meiner Sicht meist unbegründet sind.

Und weshalb sind sie trotzdem so ­präsent?

Ich nehme bei vielen Müttern und Vätern das Gefühl wahr, nicht zu genügen. Verständlich, wenn man sich anschaut, wie hoch die Latte für Eltern heute gelegt wird und welchen Idealen man nacheifert. Ständig überlegt man sich, was man alles tun könnte und sollte oder wie man sich als Eltern zu verhalten hätte. Kaum ist man laut geworden, oder hat sich etwas rausgenommen, sind die Schuldgefühle da.

Daniel Niederberger ist Sozialarbeiter und Autor und arbeitet seit über 30 Jahren als Familientherapeut. Der 62-jährige Luzerner ist auch als Maler tätig.
Daniel Niederberger ist Sozialarbeiter und Autor und arbeitet seit über 30 Jahren als Familientherapeut. Der 62-jährige Luzerner ist auch als Maler tätig.

Sie zeigen in Ihrem neusten Buch «Weniger erziehen – mehr leben!» auf, wie stark sich die Kindererziehung seit den 1960er-Jahren verändert hat. Bezeichnende Punkte für die ­Entwicklung von Schuldgefühlen.

So ist es. Wichtig scheint mir zu Beginn aber zu betonen, dass ich nicht der Meinung bin, dass früher, «mit Gott und Lehrer», alles besser war. Über viele Veränderungen können wir sehr glücklich sein. Der Vergleich mit den Elterngenerationen vor 1960 entstand aus meinem Bedürfnis heraus, zu verstehen, wie Familie systemisch funktioniert hat und wie sie es mittlerweile tut. Die heute sehr präsenten Schuldgefühle sind aus meiner Sicht auf gesellschaftliche Veränderungen zurückzuführen. Sich dies bewusst zu machen, kann helfen.

Welche Veränderungen meinen Sie konkret?

Unser heutiges Wissen über die Psychologie beispielsweise oder auch die Entwicklung von Prävention. Zudem wurde der Humanismus immer stärker. Die Kindheit soll schöner, die Erziehung sensibler, besser und liebenswürdiger sein. Und man erzieht heute basisdemokratischer. Kinder sollen schon sehr früh mitentscheiden dürfen. Diese Punkte bedingen, dass wir in der Erziehung automatisch sehr viel mehr bedenken müssen. Ebenfalls relevant ist, dass wir uns mehr leisten können und das Angebot, aus dem wir auswählen dürfen – oder müssen –, riesig ist.

Sie nennen auch die Entwicklung hin zu Kleinfamilien. Inwiefern wirkt sich das aus?

Man geht mit einem oder zwei Kindern schnell davon aus, dass Charakterzüge anerzogen sind.

Und dem würden Sie widersprechen?

Das würde ich. In Sitzungen nehme ich bei der Diskussion gerne ein altes, schwarzweisses Familienfoto aus der Schublade. Darauf finden wir unter vielleicht acht Kindern die Fleissige, den Einsiedler, den Sensiblen, die Wilde und das schwarze Schaf der Familie. Alle mit derselben Erziehung, demselben Genpool. Ich frage Eltern dann oft: «Und, was für einen Geissbock habt ihr bekommen?» Was sich vielleicht despektierlich anhört, meint bloss: Ihr habt, was ihr habt. Und vielleicht ist euer Kind einfach ein schräger Vogel, daran gibt es wenig zu rütteln. Wichtig ist, sich deswegen nicht fertigzumachen. Vielleicht verwächst es sich, vielleicht wird sie Künstlerin und vielleicht bleibt sie irgendwie schräg. Es geht darum, damit umzugehen.

Oft lösen auch die Erfolgsgeschichten anderer Familien Schuldgefühle aus. Wie gehe ich damit um, wenn gute Ratschläge und Ideen kommen?

Erst mal müssen wir uns bewusst machen, dass Familie privater geworden ist. Wir können weniger Quervergleiche ziehen. Wir sehen weniger, dass andere Eltern zu ­Hause auch mal schreien. Dass andere Kinder auch ein Chaos veranstalten und wüten. Heute fehlt dieser Einblick oft. Ziehen Sie bei allen Erfolgsgeschichten 40 Prozent ab. Machen Sie sich bewusst, dass Sie nicht Durchschnitt sein müssen, sondern irgendwo in der Bandbreite. Seien Sie stolz auf ihre Kinder und vertrauen Sie darauf, dass sie gut rauskommen. Sie müssen nicht ­weiter sein, besser oder grösser als andere. 95 Prozent werden prima Erwachsene.

Wann sind Schuldgefühle berechtigt?

Viel seltener, als man meint. Wir werden oft zur Vorsicht gemahnt und vergessen darüber, dass Kinder recht stabile und widerstandsfähige Wesen sind, die ausprobieren und lernen. Es braucht äusserst schwierige Eltern, um Kinder zu verderben. Ich spreche von psychischen Krankheiten, von Drogen, Gewalt – von grossen und langfristigen Konflikten. Und ja, manchmal finden sich zwei mit Belastungen, die eine Familie gründen. Und manchmal verrennt man sich. Wichtig ist, dass man sich professionelle Hilfe holt, wenn man merkt, man geht irgendwo zu weit.

Nun sind auch unberechtigte ­Schuldgefühle bei vielen Eltern Alltag. Wirkt sich das negativ auf die nächste Generation aus?

Wenn sie nicht den Alltag beherrschen, nein, dann glaube ich das nicht. Es ist ein Phänomen, dass die jeweils nächste Generation ihre eigenen, neuen Neurosen und Macken entwickelt, sie übernimmt aber auch stets solche der vorhergehenden Generationen.

Unsere Generation lebt in einer ­Konsumgesellschaft. Wie findet man einen Umgang mit all den Angeboten und Möglichkeiten?

Wird wieder etwas Neues an Erziehungsmethoden, Frühförderungspotenzial oder Eltern-Kind-Beziehungsverfeinerung angepriesen, dann sagen Sie «papperlapapp, wir sind doch ungefähr einigermassen gut». (Lacht.) Wichtig ist das Bewusstsein, welch riesiger Markt hinter all den Angeboten steckt. Und dass das Leben nicht planbar ist. Eine reine Kinderseele, kombiniert mit einer tollen Förderung, ergibt nicht automatisch ein perfektes Leben. Manchmal muss man sich durch­boxen. Und Kinder mussten sich immer in der Welt behaupten. Oft werden Dinge auch grossartig kommuniziert, doch an Inhalt sind sie nicht so reich. Werbung ist wahn­sinnig schlau: Sie schafft Bedürf­nisse, auch indem sie den Leuten ein schlechtes Gewissen macht.

Welche Grundhaltung wollen Sie Eltern mitgeben, um weniger ­Schuldgefühle zu haben?

Gelassenheit und Vertrauen. Wir sollten darauf vertrauen, dass es gut kommt. Und nehmen wir die eigenen Eigenarten mit Freude an. Besser: Finden wir unsere eigene Beschränktheit gut. Und bleiben wir gelassen, wenn etwas in die Hose geht. Machen wir uns bewusst, dass bedingungslose Liebe nicht bedeutet, dass man nicht aufeinander ­sauer sein kann.

Jana Avanzini
arbeitet als freie Journalistin, Texterin und Theatermacherin. Sie lebt mit ihrem Partner und dem gemeinsamen Sohn in Luzern.

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