«Leisten Sie Widerstand ohne Schaden anzurichten!» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

«Leisten Sie Widerstand ohne Schaden anzurichten!»

Lesedauer: 3 Minuten

Gereizt, unzufrieden und angriffslustig – Der Vater des 12-jährigen Mario wendet sich verzweifelt an Jesper Juul: «Wie kommuniziere ich mit meinem pubertierenden Sohn?»

Der Leser schreibt:

In den letzten drei Monaten stellten wir bei unserem Sohn Mario, 12, eine grosse Veränderung fest. Er ist oft launisch und macht sowohl uns als auch seinem achtjährigen Bruder das Leben schwer.

Es geht rauf und runter. Wenn wir die Wochenenden oder Feiertage miteinander verbringen, kommt er wieder zurück zu seinem alten Selbst, aber sobald er in der Schule und mit seinen Freunden zusammen ist, wird er mürrisch und reagiert nicht mehr auf uns Eltern.

Wir versuchen, einige der Wünsche von Mario zu erfüllen. Wir wissen auch, dass wir ihn loslassen müssen, aber er ist nie zufrieden und glücklich. Er sieht ständig das Negative, nie etwas Gutes oder Positives. Wenn etwas passiert, dann gibt er immer den anderen die Schuld.

Seine negative Haltung uns und seinem Zuhause gegenüber zermürbt uns. Wir versuchen ganz ruhig mit ihm zu reden, und oft  scheint er zu verstehen. Doch am nächsten Tag ist er wieder ablehnend. Mario ist beliebt bei den anderen, aber er erlebt nicht so viel, mit dem er sich rühmen kann, wie die anderen Burschen in seiner Klasse. Wie können wir uns Mario annähern und ihn erreichen?

Jesper Juul antwortet:

Was Sie beschreiben, ist das normale Bild eines Zwölfjährigen in der Pubertät. Er trifft  auf neue Referenzen in seinem Leben – auf Freunde –, und es beginnen grosse Umbauarbeiten in seinem Gehirn, das bis jetzt immer zur Zufriedenheit aller gearbeitet hat. In den nächsten Jahren werden sich sein Verhalten und sein Charakter ändern. Nicht nur in Bezug auf seine Stimmungen, sondern auch in Bezug auf die Fähigkeiten, die er vorher hatte. Die scheinen im Moment verschwunden zu sein.

Betrachten Sie Ihren Sohn jetzt, als wäre er ein Austauschstudent aus einer «anderen Kultur», und lernen Sie dabei, wie Sie mit ihm umgehen können.

«Wenn Eltern sich ständig einmischen, fühlt sich das Kind nicht geschätzt.»

Jesper Juul

Ihre Beschreibung erinnert mich an eine Erfahrung, die ich bei einem Gespräch mit einer Patchworkfami­lie gemacht habe. Die Mutter stellte ihre Familie vor und schloss mit folgenden Worten über ihren elfjäh­rigen Sohn: «Er ist jetzt in einem Alter, in dem ihm die Familie nicht mehr so wichtig ist.»

Die Frau sass neben ihrem Sohn, dem ein paar Tränen über die Wan­gen rannen. Als ich ihn danach frag­te, sagte er: «Das ist nicht wahr, Mama! Meine Familie bedeutet immer noch sehr viel für mich. Ich verbringe jetzt nur mehr Zeit mit meinen Freunden!»

Ihr Sohn Mario sucht nun seine eigene Art und Weise, um sich in der Welt zurechtzufinden. Würde ich ihn bitten, ein Abendessen für die Familie zuzubereiten, würde er wohl versuchen, ein guter Koch zu sein und mit allem zu experimentie­ren, was zur Verfügung steht, um dieses Ziel zu erreichen.

Wenn aber seine Eltern sich stän­dig einmischen und sagen, dass sie so etwas niemals essen würden, dann fühlt er sich bewertet. Er fühlt, dass die Energie, die er einsetzt, nicht geschätzt wird. Es wurde ihm sozusagen eine Aufgabe erteilt, aber nicht die Möglichkeit gegeben, für deren Erfüllung auch verantwortlich zu sein.

«Leisten Sie maximalen Widerstand und richten Sie minimalen Schaden an.»

Jesper Juul

Der beste Weg für Sie als Eltern, ihrem Sohn in seiner neuen Rolle zu begegnen, ist, wenn Sie in die Rolle eines Sparringspartners schlüpfen. Das bedeutet, ihm eine Art Trainingspartner zu sein, maxi­malen Widerstand zu leisten und minimalen Schaden anzurichten. Er braucht jetzt Ihre Antworten und Rückmeldungen, mit der tra­ditionellen Form der Erziehung in Form von «Unterricht» ist es nun vorbei. Er braucht ehrliches, authentisches und persönliches Feedback.

Je mehr Sie über seine neuen Ver­suche und Möglichkeiten des Menschseins richten und diese bewerten, desto mehr wird er Ihren Weg des Seins ablehnen.

Wenn wir das Bild mit ihm als Koch für die Familie herbeiziehen, so ist es nicht nur in Ordnung, son­dern es ist sogar sehr wichtig, zu sagen: «Das hat mir nicht gefallen» oder «Mmmh, das hat gut ge­schmeckt».

Das kann zu Konflikten führen, aber es sind Konflikte, an denen bei­de Parteien wachsen. Das wiederum stärkt die Beziehung in beide Rich­tungen.

«Sie sollten auch ein Nein aushalten können.»

Jesper Juul

Wenn Sie glauben, dass Ihr Sohn von Ihrer Erfahrung und Perspekti­ve profitieren kann, dann warten Sie zuerst auf seine Einladung. Das bedeutet, ihm zu vermitteln: «Ich möchte mit dir über das reden, was wir gestern zu essen bekommen haben. Hast du Zeit?» Dabei müssen Sie auch ein Nein aushalten können. Sie haben nicht mehr automatisch Zutritt zu seinem Bewusstsein und nicht mehr seine Erlaubnis, jederzeit alles sagen zu dürfen.

Ihre Zeilen, die Sie an mich gerichtet haben, vermitteln mir den Eindruck einer Familie mit zwei engagierten, liebvollen und verantwortungsbewussten Eltern, die wunderbare Arbeit geleistet haben. Vielleicht mit der Tendenz, ein wenig «zu vernünftig» zu sein. Sie werden Ihre wohlverdiente Beloh­nung dafür bekommen – allerdings wird es noch etwa zehn Jahre dauern, bis Sie die Auszahlung erhalten werden.

Bis dahin gibt es, ausser dass Sie anwesend sind, nur eine Sache zu tun: Lieben Sie Ihren Sohn so, wie er in seiner Einzigartigkeit ist, selbst wenn das das Schwierigste ist. Das ist es, was er wirklich braucht, um das er aber nicht fragen kann. Sie haben ihm das Vertrauen und die Grundlage gegeben, die beste Person zu sein, die er sein kann – auch mit seinen Fehlern.


Jesper Juul

ist Familientherapeut und Autor zahlreicher internationaler Bestseller zum Thema Erziehung und Familien. 1948 in Dänemark geboren, fuhr er nach dem Schulabschluss zur See, war später Betonarbeiter, Tellerwäscher und Barkeeper. Nach der Lehrerausbildung arbeitete er als Heimerzieher und Sozialarbeiter und bildete sich in den Niederlanden und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Seit 2012 leidet Juul an einer Entzündung der Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im Rollstuhl. Jesper Juul hat einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter Ehe geschieden.

Jesper Juul schreibt regelmässig exklusiv in der Schweiz für das Elternmagazin Fritz+Fränzi. Bestellen Sie jetzt ihr Abo!