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Wie Kinder von Eltern lernen

Lesedauer: 4 Minuten

«Wir brauchen unsere Kinder nicht erziehen, sie machen uns sowieso alles nach.» In diesem Bonmot, das Karl Valentin zugeschrieben wird, steckt viel Wahrheit. Kinder achten stärker darauf, was wir tun, als was wir sagen – und übernehmen, was wir vorleben.

Text: Fabian Grolimund
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Leider kommen wir auf das Lernen am Modell eher in negativen Situationen zu sprechen. Wir regen uns darüber auf, dass wir unliebsame Seiten unserer Eltern an uns selbst entdecken. Eine Mutter ärgert sich über ein Verhalten ihres Sohnes und meint: «Das hat er von meinem Ex!» Oder ein Lehrer äussert nach dem Elternabend abschätzig: «Naja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.» Das ist schade, weil diese Form des Lernens unheimlich viel Potenzial in sich birgt, das nur am Rande ausgeschöpft wird.

Kinder sind wählerisch. Sie achten darauf, ob das Vorbild attraktiv ist, ob es etwas hat, das sie auch gerne besässen.

Für Kinder (und Erwachsene) wäre das Lernen am Modell oft der effektivste Weg – gerade dann, wenn es darum geht, komplexe Kompetenzen zu erwerben. Aber nicht nur Fähigkeiten werden über diesen Weg entwickelt, auch Werthaltungen oder positive Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Gemeinschaftssinn, Ausdauer und Mut können wir uns von anderen abschauen.

Damit das gelingt, müssen einige Bedingungen zusammenkommen. Es ist nämlich keinesfalls so, dass Kinder passive, willenlose Empfänger wären, die sich bereitwillig alles von uns abschauen. Sie sind in diesem Prozess aktive, wählerische Beobachter, die sich ihre Vorbilder aussuchen und nur dann etwas übernehmen, wenn sie entsprechend motiviert sind.

Kinder suchen sich ihre Vorbilder aktiv aus

Bewusst und unbewusst filtern sie mögliche Vorbilder nach ein paar Kriterien. Sie achten darauf, ob das Vorbild attraktiv ist, ob es etwas hat, das sie auch gerne besässen. Das kann beispielsweise Status, Einfluss, Erfolg oder eine bestimmte Fähigkeit sein, weshalb Kinder und Jugendliche sich oft Sportler, Musiker oder Filmstars zum Vorbild nehmen. Aber auch in einer Gruppe von Kindern lässt sich dieses Phänomen beobachten.

So schauen sich beispielsweise jüngere Kinder eher etwas von älteren ab als umgekehrt.   In den ersten Lebensjahren sind wir Eltern die Helden im Leben unserer Kinder – und entsprechend attraktiv als Modell. Die Sprache, soziale Kompetenzen – fast alles erwerben die Kinder in dieser Zeit, indem sie uns imitieren. Kinder wählen sich auch gerne Modelle aus, die ihnen ähnlich sind. Mit ihnen können sie sich besonders gut identifizieren.

Nicht umsonst sind die Helden in Kindergeschichte jeweils etwa im gleichen Alter wie ihre Leserinnen und Leser. Die Sympathie und die Beziehung zwischen dem Kind und seinem Modell entscheidet darüber, ob etwas gelernt wird. Von Menschen, die uns wichtig sind und denen wir uns emotional verbunden fühlen, schauen wir uns gerne etwas ab.

Nachgemacht wird das, was erfolgversprechend ist

Wenn wir andere Menschen beobachten, interessiert uns immer auch die Frage, was ihr Handeln bewirkt. Nachgemacht wird in erster Linie das, was erfolgversprechend ist. Kinder registrieren, wie sich das Modell nach bestimmten Handlungen fühlt, was es zu sich selbst sagt und wie seine Umwelt darauf reagiert.

Kinder übernehmen beispielsweise bestimmte Werthaltungen von uns erst, wenn sie beobachten können, wie sich diese auf uns und andere auswirken – dadurch erst werden diese lebendig und nachahmenswert.

Von Menschen, die uns wichtig sind und denen wir uns emotional verbunden fühlen, schauen wir uns gerne etwas ab.

Als ich vor ein paar Wochen mit meinen Kindern am Fluss war, kam ein Mann mit einer Tasche vorbei, bückte sich und sammelte Glasscherben, herumliegende Bierdosen und Plastiktüten ein. «Papa, was macht der Mann da?», wollte mein Sohn wissen. Ich antwortete: «Der liest hier Müll auf, damit wir es schön haben und ihr euch nicht an den Glasscherben verletzt.» 

Ich lächelte dem Herrn zu und bedankte mich bei ihm. Als ich mit Nora, einer guten Freundin und den Kindern letzte Woche im Kannenfeldpark in Basel war, meinten wir nach einer halben Stunde: «Kinder, ihr wollt doch sicher noch zum Springbrunnen und ein wenig planschen – ihr habt wirklich genug Müll gesammelt für heute.» 

Wie wir das Lernen am Modell nutzen können

Wenn wir möchten, dass Kinder bestimmte Dinge lernen, können wir uns also immer fragen:

  • Gibt es Modelle, die diese Eigenschaft oder Kompetenz besitzen?
  • Sind diese für unsere Kinder attraktiv, ihnen ähnlich genug und besteht vielleicht sogar bereits eine Beziehung?
  • Könnten wir unser Kind auf dieses Modell aufmerksam machen?

Für meinen Sohn wurde dieser Mann aus mehreren Gründen zu einem wirksamen Modell. Weil er etwas tat, das er nicht einordnen konnte, war sein Interesse geweckt: Er beobachtete ihn aufmerksam. Meine Freude über dessen Verhalten, die Erklärung und das «Danke» zeigten ihm, dass diese Handlung bei anderen Menschen zu Anerkennung führt. (Hätte ich als durchaus heikler Mensch gewusst, dass er dadurch in den nächsten Wochen ständig irgendwelchen ekligen Müll anfasst, hätte ich etwas verhaltener reagiert.)

Eine Lehrerin erzählte mir von Zoe, einem besonders verträumten, unorganisierten Mädchen, das ständig sein Material vergass, das Buch nicht hervornahm und die Hausaufgaben nicht in ihr Heft eintrug. Zuerst versuchte sie es durch ständiges Ermahnen, was nur dazu führte, dass Zoe immer lustloser im Unterricht sass.

Eines Tages fiel ihr jedoch auf, dass Zoes Banknachbarin und beste Freundin Anna genau das konnte, was sie noch lernen musste. Von diesem Tag an hörte sie auf, Zoe zu ermahnen. Stattdessen ging sie am Pult der beiden Mädchen vorbei und sagte leise und beiläufig Dinge wie «ah, Anna schreibt die Hausaufgaben ins Heft» oder «Anna hat das Buch schon aufgeklappt, gut».

Wenn Kinder bestimmte Dinge lernen sollen, können wir uns etwa fragen: Gibt es Modelle, die diese Eigenschaft besitzen?

Zoe wurde jeweils gleich hellhörig und tat es ihrer Freundin gleich. Schon bald konnte sie immer häufiger sagen: «Zoe und Anna haben schon angefangen. Wunderbar.» Auch das Klassenklima lässt sich auf diese Weise verbessern. Ein Lehrer meinte, dass an seiner Schule die Regel «wir gehen respektvoll miteinander um» gelte, diese Regel jedoch viel zu abstrakt für die Primarschülerinnen sei.

Er hat mit seiner Klasse darüber gesprochen, dass es ihm vor allem darum geht, dass alle Kinder gerne zur Schule kommen. Jeden Freitag lässt er drei Schüler von einem Erlebnis berichten, das dazu beigetragen hat, dass sie gerne zur Schule kommen und sich in der Klasse gut aufgehoben fühlen. Durch dieses simple Vorgehen hören die Kinder jede Woche Beispiele für ein respektvolles und soziales Miteinander. So erzählt beispielsweise Simon, dass er es toll fand, dass Lena ihm eine Aufgabe nochmals erklärt hat. Lena freut sich darüber, und Svetlana und Tobias denken: «Das könnte ich auch mal machen.»

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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