Mobbing beginnt nicht in den Köpfen der Kinder - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Mobbing beginnt nicht in den Köpfen der Kinder

Lesedauer: 4 Minuten

Wenn in einer Schule überdurchschnittlich häufig gemobbt wird, ist der Grund oft ein Führungsproblem. Jesper Juul über fehlendes Selbstwertgefühl von Jugendlichen und die Herausforderung an Lehrkräfte, mit ihrem Verhalten Mobbing zu verhindern.

Dem Thema Mobbing in Schulen und auf sozialen Netzwerken wurde in den letzten zehn Jahren in ganz Europa viel Beachtung geschenkt. Dieser Artikel konzentriert sich auf Mobbing in Schulen. Von diversen Seiten der Gesellschaft wurden bisher verschiedenste Methoden und Programme entwickelt, aber gemäss unserem heutigen Stand (Schweden hat fundierte Nachforschungen betrieben) haben diese bisher weder eine präventive Wirkung gezeigt noch das Mobbingproblem gelöst.

Im Gegenteil: Man hat festgestellt, dass die Mobbingraten in den ersten ein bis zwei Jahren zwar zunächst sanken, danach stiegen diese jedoch auf ein noch höheres Niveau als vor dem Start der Programme und Kampagnen. Millionen wurden verschwendet, und die Kinder wurden einmal mehr alleingelassen. Mobbingopfer erhalten ausser moralischer Unterstützung meistens keine weitere Hilfe, und viele Eltern entscheiden sich, neue Schulen für ihre Kinder zu finden. Kinder, die mobben, werden auf verschiedene Weisen bestraft. Dies führt tendenziell dazu, dass sich das Verhalten dieser Kinder sogar noch verschlimmert.

Beide Gruppen erhalten keine Alternativen, um mit sich selbst und anderen umzugehen. Wie die Lehrer, so die Schüler Das grundlegende Missverständnis hinter den meisten Kampagnen ist die Annahme, dass Mobbing in den Köpfen der Kinder beginnt, was aber nicht der Fall ist. Es ist korrekt, dass Kinder die Fähigkeit haben, gemein und scheusslich zueinander zu sein. Entscheidend dafür, ob dies geschieht oder nicht geschieht, ist jedoch einzig und alleine die Führung durch die Erwachsenen.

Auch Lehrer und Lehrerinnen mobben untereinander

Im gleichen Masse widerspiegelt Mobbing am Arbeitsplatz die Qualität der Führung in einem Betrieb. Aus unseren klinischen Erfahrungen wissen wir, dass in Schulen, in welchen häufiges Mobbing zwischen Kindern betrieben wird, auch Mobbing unter Lehrpersonen stattfindet. Der einzige Unterschied besteht darin, dass intelligente Erwachsene sehr subtile Wege verwenden, um andere schlechtzumachen; Wege, die nicht so leicht bewiesen werden können. Mobbing ist eine Reaktion auf ein dysfunktionales soziales System in Institutionen und Organisationen. 

Die wichtigste Führungskraft in Schulen ist die Schulleiterin oder der Schulleiter. Ihr/sein Führungsstil, ihre/seine Werte und Prinzipien spiegeln sich im Verhalten der meisten Lehrpersonen wider. Auch die Eltern tragen einen wichtigen Teil zum Ganzen bei: die Art und Weise, wie sie ihre Kinder erziehen, und die Art und Weise, wie sie eingeladen werden, eine konstruktive Rolle in der Schule zu spielen – und nicht nur kontaktiert zu werden, um sich Beschuldigungen über die eigenen Kinder anzuhören.

Wenn in einer Institution überdurchschnittlich häufig gemobbt wird, liegt dem ein Führungsproblem zugrunde, was eine grosse Herausforderung darstellt. Um diesen Aspekt der Kultur in spezifischen Schulen umzuwandeln, muss mit der Herstellung eines konstruktiven Denkrahmens unter Lehrpersonen begonnen werden. Meistens benötigen diese eine Auffrischung in Entwicklungs- und Sozialpsychologie (Beziehungskompetenz) sowie ein adäquates Führungstraining. Keines von beidem ist meines Wissens in der Lehrerausbildung enthalten.

«Was ist ein guter Freund?» 

Der zweite Schritt beinhaltet eine philosophische Übung, welche sich sehr von einer moralischen Lektüre unterscheidet. Dies muss im ersten Monat des ersten Schuljahres passieren und wird etwa 50 Minuten in Anspruch nehmen. Die Lehrperson fragt jedes Kind: «Was ist ein guter Freund?» – Sie hört sich die Antworten an, ohne diese zu kommentieren oder zu bewerten, und lässt die Kinder in kleinen Gruppen untereinander sprechen (es ist wichtig, Mädchen und Jungen zu mischen). Am Ende kann die Lehrperson eine Zusammenfassung auf die Wandtafel schreiben und sicherstellen, dass alle Kollegen und Eltern informiert und dazu ermutigt werden, die Sache weiterzuverfolgen.

Diese Übung sollte mindestens einmal pro Jahr wiederholt werden. Hierzu sollten jeweils zusätzliche Fragen gestellt werden: «Hat jemand von euch eine schlechte Erfahrung mit einem anderen Kind gemacht? Was ist passiert und wie hast du dich dabei gefühlt?» Kinder werden diese Fragen angstfrei beantworten, sobald sie erfahren haben, dass ihre Lehrperson mit solchen Situationen umgehen kann, ohne zu moralischen Beschuldigungen oder Strafen zu greifen.

 Keine Angst offen zu reden: Alternative Schulen, die anstreben, eine auf Dialog basierende Kultur zu schaffen, sind diesbezüglich erfolgreicher. 

Generell ist es wichtig, dass sich Kinder immer sicher und geschätzt fühlen, wenn sie etwas sagen möchten, das vielleicht nicht direkt mit dem Lehrplan zu tun hat. Alternative Schulen, die anstreben, eine auf Dialog basierende Kultur zu schaffen, sind diesbezüglich erfolgreicher. Das folgende Beispiel kann als aussergewöhnlicher, mutiger Akt eines aussergewöhnlichen Mädchens angesehen werden, aber die Realität ist, dass seine Initiative ohne engagierten Beitrag aller Erwachsenen nicht möglich gewesen wäre. Der Gedanke wäre in seinem Kopf gewesen, aber nie ausgesprochen worden. Es ist auf fruchtbaren Boden gestossen.

Ein achtjähriges dänisches Mädchen fragte seinen Lehrer um Erlaubnis, vor ihre Klasse zu treten und eine persönliche Nachricht zu übermitteln. Der Lehrer schlug vor, dass es an ihrem Tisch aufsteht, aber das Mädchen bestand darauf, alle Klassenkameraden anzuschauen. «Ich möchte euch etwas Wichtiges sagen. Einer der Jungs in dieser Klasse hat Lernschwierigkeiten, und ein paar von euch hänseln und mobben ihn deswegen. Das macht ihn sehr unglücklich, und ich denke, dass es falsch ist und dass diejenigen damit aufhören sollten.»

Ihre Klassenkameraden applaudierten, und am gleichen Abend rief der Lehrer ihre Mutter an und erzählte ihr, was ihre Tochter getan hatte, und sagte ihr, dass sie stolz auf sie sein könne. Die Mutter veröffentlichte die Geschichte auf Facebook und erhielt während der Nacht Hunderte von Likes. Am nächsten Tag gingen Mutter und Tochter zum Frühstücksfernsehen, und für ein paar Wochen war das Ereignis in der Öffentlichkeit und wurde in Hunderten von Schulzimmern und Tausenden Familien diskutiert


Online-Dossier Mobbing:

Dieser Artikel gehört zu unserem
Dieser Artikel gehört zu unserem Online-Dossier zum Thema Mobbing und Cybermobbing. Erfahren Sie mehr darüber, wie Mobbing entsteht und was Sie als Eltern tun können. 


Zur Person:

Jesper Juul ist Familientherapeut und Autor zahlreicher internationaler Bestseller zum Thema Erziehung und Familien. 1948 in Dänemark geboren, fuhr er nach dem Schulabschluss zur See, war später Betonarbeiter, Tellerwäscher und Barkeeper. Nach der Lehrerausbildung arbeitete er als Heimerzieher und Sozialarbeiter und bildete sich in den Niederlanden und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Seit 2012 leidet Juul an einer Entzündung der Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im Rollstuhl.

Jesper Juul hat einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter Ehe geschieden. Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen in Zusammenarbeit mit www.familylab.ch