Zu Hause rebellisch – in der Schule ganz brav
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Zu Hause rebellisch – in der Schule ganz brav

Lesedauer: 5 Minuten

Oft nehmen Eltern ihre Kinder anders wahr als Aussenstehende. Dabei ist es für die Einschätzung des Verhaltens wichtig, den Kontext zu berücksichtigen und nicht in Schubladen zu denken.

Text: Stefanie Rietzler
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Ungläubig lauschen Hannahs Eltern den Ausführungen der Lehrerin im schulischen Standortgespräch. Die Tochter arbeite sehr selbständig und gewissenhaft, beteilige sich aktiv am Unterricht, halte sich problemlos an die Regeln und gehe sehr respektvoll mit den anderen Kindern und den Lehrpersonen um. 

Während die Lehrerin das Kompetenzraster durchgeht, werfen sich die Eltern fragende Blicke zu: Ist das dieselbe Hannah, die zu Hause an fast jedem Mittagessen herumnörgelt, wegen Kleinigkeiten in die Luft geht und Türen knallt? Ihre Hannah, die bei den Hausaufgaben zwar oft Hilfe einfordert, sie dann aber nicht annimmt? Die den halben Nachmittag mit Schmollen zubringen kann, wenn es nicht nach ihrem Willen geht, und den Bruder mit üblen Schimpfwörtern eindeckt?  

Es kommt gar nicht so selten vor, dass Eltern und Lehrkräfte das gleiche Kind ganz unterschiedlich sehen. Studien zu diesem Thema kamen immer wieder zum Schluss, dass sich die Einschätzung über das Verhalten von Kindern bei Eltern und Lehrpersonen oft erstaunlich wenig überschneidet. 

Hannahs Eltern sind zwar einerseits erleichtert, dass die Lehrerin so zufrieden mit ihrer Tochter ist. Die Rückmeldung trifft sie aber auch ein wenig und wirft auf dem Nachhauseweg Fragen auf: «Weshalb klappt es in der Schule so problemlos und bei uns nicht? Sind wir zu Hause nicht streng genug?»

Wenn das Ich müde wird

Manchen Kindern gelingt es mühelos, sich auf das schulische Umfeld einzustellen. Sie geniessen die Zeit in der Gruppe, den Trubel auf dem Pausenhof, fühlen sich durch die Inhalte im Unterricht optimal gefordert und können sich ohne grössere Anstrengung konzentrieren.

Hannah geht zwar gerne zur Schule und bringt gute Noten nach Hause, doch der Schultag ermüdet sie stark. Ihr Gehirn arbeitet auf Hochtouren, um die vielen Reize um sie herum zu verarbeiten: Da ist der Lärm, die vielen Kinder auf engem Raum, das flexible Sich-Einstellen auf immer neue Anforderungen, das Einhalten von Regeln.

Man soll der Lehrerin fokussiert zuhören oder ein Arbeitsblatt lösen, während vielleicht im Hintergrund der Heilpä­dagoge einer Mitschülerin etwas erklärt und zwei andere tuscheln. Man muss beobachten, was sich im sozialen Bereich abspielt, und seine Rolle im Gefüge finden, hat hier und da kritische Rückmeldungen und Frust auszuhalten – und dabei kaum Rückzugsmöglichkeiten. 

Oft komme ich mir vor wie ein Blitzableiter, auf den sich die ganze Anspannung eines Schultages entlädt.

Eine Mutter

Am Ende eines Schultages ist Hannahs Energietank leer. Sie kommt nach Hause, will sich fallen lassen und nicht mehr «müssen müssen». Löchern die Eltern sie gleich mit Fragen und wollen wissen, wie es in der Schule war, ob sie Hausaufgaben hat und wann sie Klarinette üben will, reagiert sie zuerst einsilbig, dann explodiert sie. 

Kinder wie Hannah brauchen zuerst eine echte Pause, in der sie für sich sein und ihre Batterien aufladen dürfen. Manche wollen im Zimmer in Ruhe Musik oder ein Hörspiel anhören, andere müssen sich bewegen können. Ich selbst fand die Schule schön, den Unterricht meist spannend. Und dennoch brauchte ich bis zur Matura einen kurzen Mittagsschlaf. 

Aber: Wenn wir überreizt sind, merken wir oft nicht, dass wir erschöpft sind. In diesem Moment hilft es, wenn jemand von aussen den Vorschlag macht: «Das war ein langer Schultag – willst du dich ein wenig ausruhen?»

Gemeinsam herausfinden, wann das Kind eine Pause braucht

Die Mutter eines Jungen mit Lernschwierigkeiten erzählte mir: «Mein Sohn reisst sich in der Schule unglaublich zusammen. Wenn er nach Hause kommt, merkt man die ganze Anspannung, die sich über den Tag angestaut hat. Oft komme ich mir vor wie ein Blitzableiter, auf den sich das alles entlädt, sobald er zur Tür hereinkommt. Es bringt dann nichts, wenn ich auch noch streng mit ihm bin und ihm vor­halte, dass er zu alt für dieses Theater ist.»

Es ist hilfreich, wenn man sich gemeinsam mit dem Kind auf den Weg macht, um herauszufinden, was das Fass zum Überlaufen bringt, woran es merkt, dass es eine Pause braucht, und was ihm dann guttut. 

Wann immer wir behaupten: ‹Dieses Kind ist …›, können wir ­besser sagen: ‹In diesem Kontext verhält sich das Kind auf eine bestimmte Art und Weise›.

Auch Joels Eltern werden am schulischen Standortgespräch mit einem ungewohnten Bild ihres Sohnes konfrontiert. Zu Hause ist er so ein offener, vernünftiger Junge, mit dem man reden kann, der seine Gefühle auszudrücken weiss, wissbegierig durch die Welt geht und seinen jüngeren Bruder liebevoll umsorgt. Wie kommt der Lehrer nur darauf, ihn als ablenkbaren und wenig interessierten, oft dominanten Schüler zu beschreiben, der immer alles ausdiskutieren will? 

Zurück bleibt nach solchen Gesprächen bei den Eltern oft der Eindruck: «Dieser Lehrer kennt unser Kind gar nicht richtig!», und auf schulischer Seite die Einschätzung: «Diese Eltern setzen die rosarote Brille auf und wollen nicht wahrhaben, wie ihr Kind wirklich ist.»

So auch in Joels Fall. Die Fronten verhärten sich und es entspinnt sich ein Kampf um «die Wahrheit»: Wer hat recht?

Der Kontext wird oft ausgeblendet 

Vieles spricht dafür, dass Joels Eltern und der Lehrer sich unbemerkt im sogenannten «fundamentalen Attributionsfehler» verfangen haben. Der Sozialpsychologe Lee Ross prägte den Begriff für das folgende Phänomen in den 1970er-Jahren: Er konnte in verschiedenen Experimenten nachweisen, dass wir Menschen dazu neigen, die Handlungen anderer viel zu stark auf deren Charakter, Persönlichkeitseigenschaften oder Grundeinstellung zurückzuführen und den Einfluss der Situation auszublenden.  

Wann immer wir behaupten: «Dieses Kind ist …», können wir ­besser sagen: «In diesem Kontext verhält sich das Kind auf eine bestimmte Art und Weise». Bei Joel liesse sich so beispielsweise feststellen, dass er in Situationen sehr motiviert und ausdauernd lernt, in denen er die Themen, den Ablauf und die Lernform frei wählen kann, und dass sich dies ins Gegenteil verkehrt, je stärker Inhalte von aussen vorgegeben werden und nach einem festen Plan bearbeitet werden müssen.

Je stärker wir davon überzeugt sind, dass ein Mensch ‹halt ist, wie er ist›, desto weniger Entwicklungspotenzial gestehen wir ihm zu.

Fürsorglich und einfühlsam zeigt sich Joel seinem kleinen Bruder oder den jüngeren Nachbarskindern gegenüber. In einer Gruppe mit Gleichaltrigen kann er aber aufdrehen, wild sein und um den Führungsanspruch kämpfen – eine Facette, die die Eltern selten zu Gesicht bekommen. Manchmal trat sie zwar bei einer Geburtstagsparty oder bei einem Fussballspiel des Sohnes hervor, fiel den Eltern jedoch nicht auf, weil sie sie als untypisch abtaten.

Je stärker wir davon überzeugt sind, dass ein Mensch «halt ist, wie er ist», desto weniger Entwicklungspotenzial gestehen wir ihm zu. Schnell findet sich das Kind in einer festen Rolle wieder – der Bestimmer, die Faule, die Zicke oder der Angsthase –, aus der es nur noch schlecht ausbrechen kann.

Sprechen wir hingegen davon, dass sich ein Kind in bestimmten Situationen oder unter bestimmten Umständen herausfordernd verhält, weitet dies den Blick für kleine, aber wichtige Unterschiede und öffnet uns wieder für den Dialog.

Stefanie Rietzler
ist Psychologin und Autorin. Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Zürich.

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