Frau Härter, wann kann ein Kind alleine bleiben? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Frau Härter, wann kann ein Kind alleine bleiben?

Lesedauer: 6 Minuten

Alleine zu Hause bleiben: Manche Kinder finden die Vorstellung berauschend, andere beängstigend. Woran erkennen Eltern, dass ihr Kind bereit ist für diesen Schritt? Was, wenn die Tochter auf die Strasse rennt? Oder der Sohn den Topf auf dem Herd vergisst? Erziehungsberaterin Rahel Härter vom Kinder und Jugenhilfezentrum kjz Winterthur weiss Antwort.

Interview: Kathrin Blum

Bild: Fotolia

Für die Entwicklung eines Kindes ist es wichtig, dass Väter und Mütter ihnen etwas zutrauen. Gelingt das Eltern bei Söhnen und Töchtern gleich gut?

Ich erlebe, dass an Jungen und Mädchen teils unterschiedliche Erwartungen gestellt werden. Diese wirken auf die Kinder – und auch auf die Eltern selbst. Denn wenn Eltern Vertrauen haben, dass ihr Kind etwas alleine schafft, fällt es leichter loszulassen. Umgekehrt machen sich Väter und Mütter mehr Sorgen, wenn sie davon ausgehen, dass es Schwierigkeiten geben könnte. Ich habe den Eindruck, dass von Mädchen eher erwartet wird, dass sie weniger Seich machen als Jungen.

Bei Anweisungen ist «Tu dies» viel besser als «lass das». 

Sind Mädchen tatsächlich vernünftiger?

Ich bezweifle das. Ein Stück weit hängen Reaktionen von Kindern damit zusammen, was und wie Eltern etwas kommunizieren. Zu sagen:  «Mach keinen Seich»  ist etwas anderes, als:  «Ich traue dir das zu, du bist vernünftig genug». In meinen Beratungen beobachte ich immer wieder, dass Jungen eher gesagt wird, was sie nicht tun sollen. Dabei schwingt oft die Erwartung mit, dass sie sich nicht an die Regeln halten. Bei Mädchen beobachte ich, dass Eltern öfter positive Anweisungen geben, die für Kinder auch einfacher umsetzbar sind. Es ist immer besser, klar und vor allem positiv zu formulieren, wie sich das Kind verhalten soll. Also nicht: «Renn nicht auf die Strasse», sondern: «Bleib auf dem Gehweg». «Tu dies» ist besser als «lass das».

Die Psychologin Rahel Härter (33) arbeitet als Erziehungsberaterin im  kjz Winterthur, einem von 14 Kinder- und Jugendhilfezentren, die zur Bildungsdirektion des Kantons Zürich gehören. 
Die Psychologin Rahel Härter (33) arbeitet als Erziehungsberaterin im  kjz Winterthur, einem von 14 Kinder- und Jugendhilfezentren, die zur Bildungsdirektion des Kantons Zürich gehören. 

Wenn ich mein Kind allein lassen will, lautet die Anweisung also: «Bleib in der Wohnung und streiche dir ein Butterbrot, wenn du Hunger bekommst». Wann ist mein Kind dafür alt genug?

An einem bestimmten Alter kann man das nicht festmachen. Dafür entwickeln sich Kinder zu unterschiedlich. Eltern sollten sehr genau schauen, wo ihr Kind steht, welche Impulse von ihm selbst kommen, und was sie ihm zutrauen können. Unabhängig davon ist das Lernen, alleine zu sein, eine Entwicklung in Richtung Selbstständigkeit. Es stellt sowohl für Kinder als auch Eltern einen Ablösungsprozess dar, zu dem viele kleine Schritte gehören.

Wie könnte ein erster Schritt aussehen?

Erste Schritte sind ein Üben in Alltagssituationen, in denen Eltern das Kind für kurze Zeit alleine lassen. So zum Beispiel, wenn der Vater oder die Mutter kurz ohne das Kind im Keller etwas holen muss oder ins Bad geht. Dabei sollten sie ihr Kind genau beobachten, wie es reagiert. Solche Erfahrungen helfen, das Kind einschätzen zu können und herauszufinden, was für das Kind passend ist. Wenn es von heute auf morgen heisst: «So, jetzt bleibst du mal alleine zu Hause», fühlen sich Kinder rasch überfordert. Wichtig ist, dass Kinder und auch Eltern während dieses Prozesses üben und lernen können.

Manche Eltern tun sich da ja schwerer als ihre Kinder …

Ja, auch für sie ist es ein Lern- und Ablösungsprozess, der nicht einfach ist. Durch kleine Schritte können sie Vertrauen zu ihrem Kind und seiner Selbsteinschätzung aufbauen und ein Gefühl dafür bekommen, was das Kind überfordert und wo es andererseits gut wäre, den Sohn oder die Tochter zu ermutigen.

Wie sollten Eltern reagieren, wenn ein Kind von sich aus anbietet, alleine zu bleiben?

Die meisten Kinder sagen tatsächlich irgendwann: «Geh du nur.» Sie haben das Bedürfnis, sich auszuprobieren und autonom zu sein. Dann ist es wichtig, dass die Eltern prüfen, was es braucht, und ob sich das Kind noch überschätzt oder tatsächlich so weit ist. Wie gut ein Kind zurechtkommt, hängt von vielen Faktoren ab: Ist es gesund, steht es gerade vor einem Entwicklungsschritt, oder gibt es Belastungen im Umfeld? Diese Fragen helfen einzuschätzen, was dem Kind zugetraut werden kann. Im Übrigen ist dieser Entwicklungs- und Ablösungsprozess kein gerader Weg, sondern ein kurviger, manchmal holpriger. Einmal geht es gut und dann kommen wieder grössere Herausforderungen. Deshalb gibt es auch keine Regel à la: Wenn A gegeben ist, kann B folgen.

Kurz und schmerzlos, oder ausufernd erklären – wie sollten Mütter und Väter dem Kind beibringen, dass sie gleich gehen werden?

Es ist ganz wichtig, mit dem Kind zu sprechen und klar mitzuteilen, wie lange die Eltern weg sein werden. Kinder verstehen schon früh, dass jemand kurz weg geht und wiederkommt. Wenn die Eltern klar ohne Umschweife vermitteln können: Dieser Schritt ist jetzt gut und angebracht, wir fühlen uns sicher dabei, wir trauen dir das zu; dann ist das sehr hilfreich für das Kind.

Wie sieht es bei Geschwistern aus – können zwei Kinder alleine gelassen werden, wenn das ältere sich sicher fühlt?

Das kommt stark auf den Altersunterschied an. Wenn beides kleinere Kinder sind und das Grosse gerade so weit ist, dann ist es womöglich überfordert damit, auch noch auf ein kleineres Geschwister zu schauen. Wenn das ältere Kind sich zutraut, auf das Geschwisterchen aufzupassen, ohne unter Druck zu geraten, ist das durchaus möglich. Allerdings muss man bedenken, dass sich Brüder und Schwestern auch gerne mal zu Blödsinn anstiften. Deshalb ist es wichtig, mit den Kindern zu besprechen, was okay ist und wo die Grenzen sind.

Manchmal muss man es eben einfach ausprobieren.

Wie wichtig ist eine Art Notfallplan, falls etwas schief läuft?

Sehr wichtig! Eltern sollten mit ihren Kindern besprechen, was sie tun können und wohin sie sich wenden können, wenn etwas passiert. Nachbarn können da eine wichtige Ressource sein, allerdings nur, wenn man sie auch kennt und ihnen vertraut. Die Kinder müssen wissen, dass sie die Eltern jederzeit per Handy erreichen können. Manchmal hilft es Mädchen und Jungen bei Verunsicherung schon sehr, wenn sie kurz die Stimme von Papa oder Mama hören können.

Manche Eltern zögern lange, weil sie fürchten, es könnte ein Unglück passieren.

Wie überall im Leben können auch hier nie alle Gefahren ausgeschlossen werden. Für Eltern ist es wichtig, potenzielle Gefahrenquellen einzuschätzen. Und dann muss man es einfach ausprobieren. Das Kind erlebt bestenfalls, dass es auch schwierige Situationen meistern kann und nicht mehr so abhängig ist. Und wenn man umgekehrt merkt, dass es zu viel war, sollte man ruhig nochmal einen Schritt zurückgehen. 

Wie schwierig ist es für Kinder, nach der Schule alleine zu Hause anzukommen?

Das ist abhängig vom Umfeld, dem Schulweg, den Freunden, der aktuellen Schulsituation. Wichtig ist, dass Kinder zu Hause aufgefangen werden. Sie bringen vieles, was an Spannung da war, mit nach Hause. Dort können sie loslassen. Wenn sie alleine sind, bleibt die Spannung länger aufrechterhalten und entlädt sich möglicherweise später umso heftiger. Auch hier gilt wieder: Üben und Ausprobieren. Wenn es gut läuft in der Schule und mit den Freunden, kann das Ankommen ganz unproblematisch sein. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wann die Zeit reif dafür ist, einen Schlüssel zu tragen. Manche Kinder zeigen diesen herum und er geht verloren, andere gehen verantwortungsvoll damit um.

Immer wieder werden in den Medien Helikopter-Eltern kritisiert. Also Mütter und Väter, die ständig um den Nachwuchs kreisen und ihm alles abnehmen. Trauen wir unseren Kindern zu wenig zu?

Die gesellschaftliche Stellung des Kindes hat sich verändert. Wenn Kinder einen Grossteil des Lebenssinns der Eltern ausmachen, besteht durchaus die Gefahr, dass die Loslösung schwerer gelingt. Auch sind die Erwartungen und der Druck der Gesellschaft an Eltern hoch, ihre Kinder möglichst zu fördern und zu unterstützen. Eltern sind durch die Vielzahl an Ratgebern oft verunsichert und werden dadurch möglicherweise auch vorsichtiger. Aber ob Kinder heute allgemein überbehütet sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Wir sollten unseren Söhnen und Töchtern auf jeden Fall auch im Kleinen zugestehen, selbstständig zu sein. Wenn sie etwas versuchen und es gelingt, stärkt das ihr Selbstwertgefühl. Und wenn sie scheitern, können sie mit der Unterstützung der Erwachsenen lernen, den Misserfolg zu verarbeiten. Kinder, denen zu viel abgenommen wird, trauen sich weniger zu, weil das Erfolgserlebnis etwas schaffen zu können, ausbleibt. 

Woran können Eltern erkennen, ob ihr Kind das Alleinsein gut meistert oder noch überfordert ist? 

Fragen, die bei der Einschätzung helfen können…

im Vorfeld: 

  • Fühlt sich das Kind beim Besprechen der neuen Situation sicher?
  • Freut sich das Kind auf die bevorstehende Herausforderung?
  • Reagiert das Kind irritiert bei der Ankündigung?
  • Ist das Kind durch die neue Situation verunsichert?
  • Fragt das Kind häufig nach, wann die Eltern wieder zurückkommen?
  • Wirkt das Kind aus Verunsicherung heraus stark aufgedreht oder übermütig, bevor die Eltern sich verabschieden?
  • Bringt das Kind ungewöhnlich viele Bedürfnisse an Nähe und Sicherheit zum Ausdruck?
  • Ist das Kind gesund oder klagt es über Bauchweh, Kopfschmerzen, Übelkeit?
  • Entsteht wegen Kleinigkeiten rasch Streit oder wirkt das Kind aggressiv oder angespannt?
  • Hat das Kind beim Essen plötzlich keinen Appetit mehr oder kann nicht schlafen?

rückblickend: 

  • Wie geht es dem Kind bei der Rückkehr der Eltern?
  • Was berichtet das Kind vom Erlebten? 
  • Zeigt sich das Kind stolz und begeistert?
  • Wirkt das Kind angespannt oder aufgewühlt?
  • Wirkt das Kind ängstlich oder fröhlich und entspannt?
  • War das Kind in der Lage, Unvorhergesehenes zu bewältigen?
  • Zeigt das Kind ein ungewöhnlich grosses Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit?
  • Wird das Kind krank oder klagt über Bauchweh, Kopfschmerzen, Übelkeit?
  • Entsteht der Eindruck, dass das Kind ständig Streit und die Auseinandersetzung mit den Eltern oder Geschwistern sucht?
  • Schläft das Kind gut ein und zeigt normales Essverhalten?

Kleiner Orientierungsleitfaden

Das Kind kann alleine zu Hause bleiben, wenn es reif dafür ist: Manche Eltern fragen sich, ob das mit 5, 9 oder 13 Jahren der Fall sein wird. Ulric Ritzer-Sachs von der Onlineberatung der deutschen Bundeskonferenz für Erziehungsberatung wird da schon etwas konkreter: «Viele ältere Kindergartenkinder kann man mal eine Viertelstunde alleine lassen, ohne dass die Welt untergeht – sofern Gefahrenquellen ausgeschaltet sind und man sich nicht allzu weit entfernt.»

Spätestens mit 14 sollte man Jugendliche auch längere Zeit alleine lassen können – sofern sie gesund und normal entwickelt sind. Bei Kindern im Primarschulalter rät auch er, genau hinzuschauen, Entscheidungen vom Entwicklungsstand abhängig zu machen und vor dem Alleinlassen zu klären: Hol Hilfe, wenn etwas passiert. Und falls es brennt: Lass alles stehen und liegen und lauf so schnell du kannst nach draussen.

Bild: Fotolia