Suchen wir das Glück am falschen Ort? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Suchen wir das Glück am falschen Ort?

Lesedauer: 4 Minuten

Unser Kolumnist Fabian Grolimund schreibt über Jugendliche, die am Sinn des Lebens zweifeln. Und wie Eltern ihren Kindern vermitteln können, dass sie im Hier und Jetzt gebraucht werden.

Text: Fabian Grolimund
llustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren 

Liebe Eltern, ich bin alles andere als ein Schwarzmaler. Was die Erziehung von Kindern betrifft, freue ich mich sehr über viele positive Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben. Eltern begegnen ihren Kindern mit mehr Wärme, Wertschätzung und Respekt. Die meisten Jugendlichen geben an, eine gute Beziehung zu ihren Eltern zu haben, und immer mehr Väter bringen sich aktiv in die Erziehung ein. Dafür darf sich unsere Elterngeneration auch einmal selbst auf die Schulter klopfen!

Es gibt aber auch Entwicklungen, die mir Sorgen bereiten. Eine davon ist, dass sich Eltern heute zwar intensiv um ihre Kinder kümmern, die Kinder und Jugendlichen selbst aber von unserer Gesellschaft nicht gebraucht werden. Wir stecken vieles in die Kinder und erwarten, dass sie sich für eine Zukunft bemühen, die für sie in weiter Ferne liegt. Es gelingt uns aber kaum mehr, unseren Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass sie für die Gemeinschaft wichtig sind. Für meine Eltern war es anstrengend, wenn sie nach der Schule noch auf dem Hof oder im Haushalt mithelfen oder auf die Geschwister aufpassen mussten. Aber sie fühlten sich gebraucht.

Ein Schlüssel zum Glücklichwerden

In letzter Zeit sind mir viele Jugendliche und junge Erwachsene begegnet, die am Sinn des Lebens zweifeln. Vielen gemeinsam ist das Gefühl, im Hier und Jetzt nicht gebraucht zu werden. Eine 25-jährige Studentin sagte letzte Woche in einem Seminar zu mir: «Ich weiss einfach nicht, wozu ich hier bin. Seit ich 7 bin – also seit 18 Jahren –, dreht sich alles immer nur darum, dass ich gute Noten schreibe. Es ist, als ob ich mich seit ewigen Zeiten immer nur auf ein Leben vorbereiten soll, das irgendwann einmal stattfindet.»

Wenn wir möchten, dass unsere Kinder und Jugendlichen glücklich werden, das Leben als sinnstiftend erleben und ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln, sollten wir uns viel häufiger fragen, was unsere Kinder und Jugendlichen für andere tun können.

Wer ehrenamtlich tätig ist, hat ein grösseres Selbstvertrauen und ein gesünderes Selbstwertgefühl.

Wir sollten ihnen Gelegenheit geben, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen und zu erfahren, dass es auf sie und ihren Beitrag ankommt. Kinder und Jugendliche sollten erleben dürfen: Man zählt auf  mich. Durch mich und meinen Beitrag wird meine Familie, meine Klasse, ja vielleicht sogar die Welt ein Stück besser.

Wie wichtig diese Erfahrung ist, zeigen mittlerweile mehrere Studien. Diese kommen zum Beispiel zum Schluss, dass Menschen, die sich ehrenamtlich betätigen, ein grösseres Selbstvertrauen und ein gesünderes Selbstwertgefühl aufweisen. Jugendliche, die sich mindestens eine Stunde pro Woche für andere oder eine gute Sache einsetzen, haben ein niedrigeres Risiko, Alkohol oder Zigaretten zu konsumieren. Zudem weisen sie höhere soziale Kompetenzen auf und sind in der Schule besser.

Wichtige Aufgaben sind erfüllend 

Helfen ist aber nicht gleich helfen. Kinder und Jugendliche sollten auf eine Art und Weise helfen dürfen, die eine Wirkung erzielt und bei der sie Verantwortung übernehmen und ihre Fähigkeiten nutzen können. Für eine Zwölfjährige mag es wenig erfüllend sein, an drei Tagen in der Woche das Geschirr abzuräumen und bei der Essensvorbereitung Gurken und Rüebli zu schneiden. Ein Gefühl, Verantwortung übernommen und etwas bewirkt zu haben, stellt sich vielmehr dann ein, wenn eine wichtige Aufgabe ganz in unseren Händen liegt.

Wenn eine Jugendliche in diesem Alter beispielsweise an einem Tag in der Woche für die Familie einkauft und kocht und stolz darauf sein darf, wenn ihr Essen allen schmeckt und die Eltern sich bedanken, weil sie an diesem Tag eine wirkliche Entlastung erfahren haben. Welche Aufgaben würden Ihr Kind herausfordern? Kann es im Rahmen seiner Fähigkeiten beim Kochen mitwirken? Einen Sonntagsausflug für die Familie planen? Ein Gemüsebeet im Garten anlegen? Sich um das kleine Geschwister kümmern? Einem Freund bei Schulproblemen weiterhelfen? In der Gemeinde eine soziale Aufgabe übernehmen? Ein Umweltschutzprojekt unterstützen? Je mehr Ihr Kind dabei eigene Werte vertreten und eigene Interessen ausleben kann, desto mehr wird es aus dieser Erfahrung ziehen.

Schulprojekte, die den Gemeinsinn fördern 

Auch Schulen profitieren, wenn sich die Schülerinnen und Schüler vermehrt füreinander, für die Schule, die Gemeinde oder eine bessere Welt einsetzen dürfen. In letzter Zeit haben mir mehrere Lehrpersonen von solchen Projekten berichtet. Die Erfahrungen, die sie dabei machen, ähneln sich sehr: Die Kinder sind motivierter, lernwilliger und überraschen nicht selten die Lehrpersonen durch ein ungeahntes Mass an Selbstorganisation, Eigenverantwortung und Kreativität.

Am Ende meines Vortrags für einen Elternbeirat wies die Verantwortliche darauf hin, dass noch mehrere Eltern benötigt würden, um das Schulfest vorzubereiten. Betretenes Schweigen, die Blicke gehen zu Boden. Alle hoffen, dass sich andere melden. Da musste ich an eine Schulsozialarbeiterin denken, die mir davon berichtete, dass die Organisation des Schulfestes an ihrer Schule seit einigen Jahren komplett in den Händen der Schülerinnen und Schüler liegt.

Es gelingt uns kaum mehr, unseren Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass sie für die Gemeinschaft wichtig sind.

Sie hatte dieses Projekt vorgeschlagen und angeschoben. Ihr Fazit: «Zunächst hat es Energie benötigt. Aber bald war ich komplett von den Socken, wie gut es den Schülern gelungen ist, die Aufgaben festzulegen und auf einzelne Gruppen zu verteilen. Jedes Kind der beteiligten Klassen fand einen Platz, der zu ihm passt.»

Andere Lehrpersonen einer Primarschule erzählten mir davon, wie zwei Klassen einen Dorfteich anlegten und dabei sehr viel über die einheimische Fauna und Flora und Gewässerbewirtschaftung lernten. Viele Schüler kamen sogar am Wochenende mit Schaufeln bewaffnet, um das Loch auszuheben.

Wie wäre es, wenn im Werkunterricht ein Kinderspielplatz für die jüngeren Schüler entsteht? Oder ein Nistplatz für Vögel und Insekten? Könnte im Sprachunterricht ein Theater für das Seniorenheim vorbereitet werden? Könnten die Achtklässler eine Unterrichtseinheit für die Fünftklässler vorbereiten? Wie wäre es, wenn die Schüler gemeinsam die Schule verschönerten? Oder wenn in Klassen darüber gesprochen würde, wie die Schüler dazu beitragen könnten, dass sich jedes Kind in der Schule wohl fühlt?

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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