Soll ich für eine neue Liebe von meinem Sohn wegziehen? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Soll ich für eine neue Liebe von meinem Sohn wegziehen?

Lesedauer: 4 Minuten

Ein Vater teilt sich mit seiner Ex-Partnerin das Sorgerecht für seinen vierjährigen Sohn. Nun überlegt er sich umzuziehen. Damit würde er seinen Sohn – zumindest räumlich – verlassen. Er fragt Jesper Juul in seinem Gewissenskonflikt um Rat.

Ich bin ein 30-jähriger Mann und habe einen 4-jährigen Sohn aus einer früheren Beziehung. Wir wohnen nur ein paar Kilometer voneinander entfernt. Ich habe eine sehr gute Beziehung zu Mirko, meinem Sohn, und auch eine vernünftige Beziehung zu meiner Ex-Partnerin. Wir haben zwar wenig persönlichen Kontakt, können aber gut über unseren Sohn reden. Wir teilen uns das Sorgerecht. Drei Tage pro Woche ist unser Sohn bei mir, vier Tage bei seiner Mutter. Das funktioniert gut. An den Tagen, an denen er bei mir ist, hole ich Mirko vom Kindergarten ab und bringe ihn am nächsten Tag hin. Meine Ex-Partnerin und ich stammen beide aus dem Wallis, wohnen aber nun in St. Gallen. Dorthin zogen wir wegen ihrer Ausbildung.

 Ich wollte schon immer zurück ins Wallis zu Familie und Verwandten. Dort habe ich mein Netzwerk und fühle mich wirklich zu Hause. Einer der Gründe für die Trennung war unsere Uneinigkeit in Bezug auf unsere Zukunftspläne. Meine Ex-Partnerin kommt gut zurecht in der Stadt, es scheint, als wolle sie weiterhin hier leben. Ich dagegen fühle mich hier nicht wohl. Nun habe ich eine Frau im Wallis kennengelernt und mich in sie verliebt. Sie hat auch ein Kind – es ist im gleichen Alter wie Mirko. Die beiden Kinder haben sich vor Kurzem kennengelernt und sich gut verstanden. Es läuft richtig gut, wenn wir vier zusammen sind. Ich bin mir sicher, dass ich genauso unzufrieden mit meiner Wohnsituation gewesen wäre, wenn ich diese neue Frau nicht getroffen hätte. 

«Letztlich geht es nicht um Ihren Sohn. Sondern um die Frage, wer Sie sind und wer Sie sein wollen.» 

Jesper Juul

Das Problem ist, dass die Entfernung zwischen dem Wallis und der Ostschweiz sehr gross ist. Wenn ich umziehen würde, wäre ein gemeinsames Sorgerecht, wie wir es heute haben, unmöglich umzusetzen. Es würde für mich bedeuten, eine neue Vereinbarung für meine gemeinsame Zeit mit Mirko zu treffen, und das ist wohl das, was mich am meisten verunsichert. Wenn ich umziehe, wird es für den Buben und mich ein ganz anderer Alltag werden. Es ist offensichtlich, dass Mirko beide Elternteile schätzt. Ich kämpfe mit meinem Gewissen, was ich tun soll. Meine Vernunft und meine Gefühle sind zweigeteilt. Ich möchte so viel wie möglich am Leben meines Sohnes teilnehmen und weiss gleichzeitig, dass mein Glück  im Wallis liegt.

Ich komme mir sehr egoistisch vor, wenn ich daran denke, welche grosse Distanz ich zwischen mich und Mirko damit legen würde, aber auf der anderen Seite macht es für mich Sinn, diesen Schritt zu tun, um im Leben weiterzukommen. Sollte ich auf «meine eigenen Bedürfnisse» zugunsten der meines Sohnes verzichten? Denn auch ich möchte mein Leben mit jemandem teilen. Bekannte raten mir, damit zu warten, bis der Junge älter ist oder seine Mutter wieder ins Wallis zurückkehrt. Sollte ich wegziehen, bin ich mir nicht sicher, welches Leben das für mich und den Jungen werden wird – auch wenn ich davon überzeugt bin, dass es ihm viel besser mit mir gehen würde, wenn wir an einem Ort wären, an dem ich mich wohlfühle. Nur: Wie oft könnte ich meinen Sohn sehen? Würde ich mit einem Umzug einen Konflikt mit der Mutter provozieren, der den Kontakt erschweren könnte?

Jesper Juul antwortet:

Ihr Anliegen enthält Essenzen von Themen, die viel zu oft moralisiert oder totgeschwiegen werden. Sie stehen vor dem, was man eine «existenzielle Wahl» nennt. Sie bedeutet eine Entscheidung, die für den Rest des Lebens steht. Dabei gibt es nur eine richtige Antwort – Ihre eigene. In solch einer Situation ist es klug, Informationen zu sammeln, die das Dilemma, in dem Sie stecken, beleuchten. Alle Theorien und Fakten der Welt können jedoch nur aufklären, aber Ihnen nicht die Entscheidung abnehmen.

Existenzielle Entscheidungen sind einsame Entscheidungen. Nur Sie können diese treffen.
Trotzdem ist es eine gute Idee, qualifizierte Unterstützung von erfahrenen Mitmenschen – einschliesslich dem Kind – zu erhalten. Wenn Sie eine professionelle Unterstützung in Erwägung ziehen, wäre jemand am besten, der sich mit  den grossen Fragen des Lebens auseinandersetzt, ohne sich darum kümmern zu müssen, Lösungen für Sie zu finden.

«Manchmal steht man vor einer existenziellen Entscheidung – niemand kann einem diese abnehmen.»

Jesper Juul

Letztlich geht es nicht um Ihren Sohn, sondern darum, wer Sie sind und wer Sie sein wollen. Folgende Fragen stellen sich:
 

  • Ist es traurig für Ihren Sohn, wenn Sie wegziehen?
    Ja, das ist es. Sie scheinen ein engagierter, liebender, verantwortungsbewusster Mann zu sein, der eine starke gegenseitige Bindung aufgebaut hat. Daher wird es ein grosser Verlust sein – auch für ihn. Aber auch grosse Verluste schaden weder Kindern noch Erwachsenen. Sie tun nur weh.
  • Wird er das Vertrauen in Sie verlieren, wenn Sie Ihren eigenen Bedürfnissen folgen?
    Nein, das würde nur passieren, wenn Sie ein kalter Egoist wären, dem die Gefühle des Kindes egal wären.
  • Wird er wütend auf Sie sein?
    Ja, das hoffen wir um seinetwillen. Die Seele und deren Empfindungen – also auch Wut – gehören zum Trauerprozess. Diese Emotionen werden euch in den nächsten fünfzehn bis zwanzig Jahren Anlass zu vielen guten Gesprächen geben.
  • Wird die veränderte Beziehung zwischen Ihnen eine grosse Bedeutung in seiner Entwicklung spielen?
    Dies ist eine offene Frage. Die grosse Mehrheit der Kinder hat eine besondere Beziehung zu einem Elternteil. Diese Verbindung ist nicht emotionaler, sondern existenzieller Natur. Das heisst, mit diesem Elternteil wird das Kind über das Leben lernen und wie es damit umgehen soll. Nicht durch Lernen und Erziehung, sondern durch tägliche Anwesenheit. Ihr Sohn wird Sie vermissen, aber werden Sie ihm auch fehlen?
  • Und Sie sollten sich selbst fragen: Könnten Sie mit dem Verlust leben?
    Voraussetzung für Ihre Entscheidung ist, dass Sie sich selbst wie auch Ihrem Sohn in die Augen schauen können, zwar mit Trauer, aber einem guten Gewissen. Sonst werden Sie ein Verlangen erfahren, Ihren «Verrat» zu kompensieren. 

Mein Rat ist daher, dass Sie mit einer Handvoll vernünftiger Menschen sprechen sollten – also Personen, die ernsthaft an Ihnen als Person interessiert sind und nicht voreilig moralische Urteile über andere fällen –, und dann wird die Entscheidung in Ihnen reifen.

In Zusammenarbeit mit familylab.ch


Jesper Juul (1948 – 2019)

Nehmen Sie Ihr Kind ernst – begegnen Sie ihm mit Respekt. Kinder brauchen keine Grenzen – sondern Beziehung. Eltern müssen nicht konsequent sein – sondern glaubwürdig.

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer des Beratungsnetzwerks familylab und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») war zweimal verheiratet. Er hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder. 

Jesper Juul starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. 


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