«Fast alles, was Eltern versäumt haben, lässt sich wieder ausbügeln» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Fast alles, was Eltern versäumt haben, lässt sich wieder ausbügeln»

Lesedauer: 4 Minuten

Die Psychologin Margarete Killer-Rietschel erklärt, wie Selbstbewusstsein entsteht, welche Rolle die Erziehung dabei spielt – und was Eltern tun können, wenn ihr Kind sich wegen schlechter Noten infrage stellt.

Interview: Claudia Landolt
Bild: Alain Laboile

Frau Killer-Rietschel, das ­Selbstbewusstsein eines Kindes ­entsteht in den ersten sechs ­Lebensjahren. Ist alles, was später kommt, vergebliche Mühe?

Keineswegs. Der Aufbau des Selbstvertrauens hat keinen Anfangspunkt und endet nicht an einem bestimmten Tag, sondern ist ein kontinuierlicher Prozess. Man kann immer, auch im Erwachsenenalter noch, am Selbstvertrauen arbeiten, es au­fbauen oder positiv beeinflussen. Aber natürlich gilt: Je früher das Selbstbewusstsein nachhaltig gestärkt wird, desto besser ist das für die Persönlichkeitsentwicklung.

Das Kind möglichst früh zu stärken – das ­bedeutet auch Druck für Eltern.

Ich verstehe das. Aus psychologischer Sicht wirkt sich aber Druck und Stress, den Eltern diesbezüglich verspüren, auch wieder auf das Kind aus. Ich plädiere für mehr Toleranz und wünsche mir, dass wir die Fehlertoleranz, die wir unseren Kindern gegenüber haben, auch uns selbst angedeihen lassen.

Margarete Killer-Rietschel ist diplomierte Psychologin und therapiert Jugendliche und Erwachsene. Sie ist Mutter von drei Kindern zwischen 16 und 20 Jahren und lebt mit ihrer Familie bei Zürich.
Margarete Killer-Rietschel ist diplomierte Psychologin und therapiert Jugendliche und Erwachsene. Sie ist Mutter von drei Kindern zwischen 16 und 20 Jahren und lebt mit ihrer Familie bei Zürich.

Wie meinen Sie das?

Wir haben ja viel Verständnis, verzeihen unseren Kindern fast alles. Diese Grossherzigkeit haben wir uns selbst gegenüber nicht. Mit Selbstmitgefühl – das bedeutet, freundlich, achtsam und verständnisvoll mit sich selbst zu sein – geht vieles leichter. Aber wir gehen mit uns selbst häufig viel zu hart ins Gericht. Kürzlich erzählte mir eine Mutter, sie hätte ein total schlechtes Gewissen, weil sie beruflich sehr viel Stress habe und ihren Sohn oft vertrösten müsse, wenn er ihre Zeit beanspruchen wolle.

Was haben Sie ihr gesagt?

Erziehen ist ein Knochenjob. Als Mutter oder Vater ist man da auch mal gereizt, gestresst oder hat keine Zeit, weil das Büro drängt, der Haushalt wartet, etwas dringend erledigt werden muss. Das ist menschlich und sicherlich kein Fehler.

Wichtig ist, den Kontakt zum Kind nicht abreissen zu lassen. Man darf auch ruhig erst am Abend erklären, weshalb man so gestresst oder abweisend war, wenn man es erst im Nachhinein bedauert. Das übergeordnete Ziel ist immer, das Kind innerlich liebevoll zu begleiten, es wertzuschätzen, es zu lieben und sich an seiner Existenz zu freuen und im Kontakt zu bleiben. Fast alles, was wir versäumt haben, lässt sich wieder ausbügeln.

Kann man ein Kind mit zu viel Liebe und Wertschätzung verwöhnen?

Nein, niemals. Kinder brauchen Stabilität, Sicherheit und Ermutigung in allen Lebensphasen. «Ich schätze und liebe dich als Person, es ist so schön, dass du da bist» – so etwas sollte man jeden Tag zu seinem Kind sagen beziehungsweise es spüren lassen, ein Leben lang. Selbst wir Erwachsene hören das ja gern.

Jeder Mensch hat Stärken. Eltern können mit ihrem Kind herausfinden, was das sein kann.

Fördert eine gleichberechtigte ­Erziehung das Selbstbewusstsein des Kindes?

In meinen Augen bedeutet Gleichberechtigung, dass man den gleichen Wissensstand hat. Den haben Eltern und Kinder naturgemäss nicht, denn Kinder haben nicht die Erfahrung, die Kompetenz, die wir Erwachsenen haben. Kinder sollen ein Mitspracherecht bekommen, aber irgendjemand in der Familie muss eine gesunde, liebevolle Autorität haben und Entscheidungen treffen.

Wie kann man konkret im Alltag Selbstbewusstsein fördern?

Indem man das Kind darin bestärkt, dass es ganz sicher etwas besonders gut kann. Jeder Mensch hat Stärken. Eltern können mit ihrem Kind herausfinden, was das sein kann. Wenn ein Kind bei etwas, das es gerne aus sich selbst heraus tut, Spass hat, ist das wunderbar. Denn dann stellt sich das ein, was wir Flow nennen: das beglückende Gefühl eines mentalen Zustandes, in dem man restlos in einer Tätigkeit aufgeht. Beim Kind ist das meist in irgendeiner Form des Spielens. Im Flow macht das Kind die Erfahrung der Selbstwirksamkeit, das heisst: Es erfährt, dass es neue Anforderungen selbst bewältigen kann. Das ist ein innerer, erfüllender Prozess, unabhängig von der Bewertung durch andere.

Was, wenn das Kind wegen schlechter Noten in der Schule leidet?

Aus Schwächen können grosse Stärken werden. Einer meiner langjährigen Klienten ist Legastheniker. Es war in der Schule oft schwierig für ihn. Irgendwann lernte er aus purer Not alles auswendig, denn er wollte sich nicht blamieren. Heute verfügt er über eine phänomenale Merk­fähigkeit. Sich eine zehnstellige Zahlenfolge einzuprägen, ist für ihn kein Problem. Und: Eltern sollten sich vor Augen halten, dass jedes Kind einen positiven Wesenskern hat, der das Recht hat, sich zu entwickeln.

Kinder vergleichen sich. Ein Beispiel: Das Kind erzählt, es sei ausgelacht worden und habe gehört, es singe wie eine Krähe. Was raten Sie?

Im ersten Schritt: Mitgefühl, Trost. Im zweiten Schritt kann ich dem Kind aber auch einen alternativen Umgang mit Verletzungen nahebringen, zum Beispiel humorvolle Distanz: Das ist ja ein Kompliment, der Vergleich mit einer Krähe! Krähen sind nämlich sehr intelligent, sie verfügen über eine Art Planungs­intelligenz ähnlich wie der Mensch. Und sie sind sehr soziale Wesen, leben nah bei den Menschen und können sich sogar Gesichter merken.

Die Schule ist nur die Schule. Noten sagen nur einen kleinen Teil über die tatsächliche Begabung und spätere Erfolge aus.

Das hört sich gelassen an. Sind Sie der Meinung, Eltern sollen vermehrt darauf vertrauen, dass es gut kommt?

Es ist eine ganz wichtige Fähigkeit, den Glauben an sein Kind niemals zu verlieren. Sich immer wieder zu sagen: Doch, das kommt schon gut, ist wichtig und richtig. Manchmal fällt das leicht, manchmal schwer. Das ist normal. Gleichzeitig sollte man als Mutter oder Vater aber immer achtsam und wachsam bleiben.

Wie meinen Sie das?

Wenn das Kind sich zurückzieht, kaum mehr rausgeht, die Schule schwänzt oder bis morgens um zwei Uhr am Computer sitzt: Das sind Signale, die man als Eltern ernst nehmen und dann Präsenz zeigen sollte. Also den Kontakt zum Kind suchen, fragen und spüren, wie es ihm geht. Eltern haben eine wichtige Erziehungsverantwortung. Diese gilt es wahrzunehmen.

Was, wenn das Kind in der Schule das Gefühl hat, es genüge nicht?

Ich rate, auch wenn es manchmal alles andere als leichtfällt, zu folgendem Gedanken: Die Schule ist nur die Schule. Noten sagen nur einen kleinen Teil über die tatsächliche Begabung und spätere Erfolge aus. Eine Möglichkeit kann sein, in jenen Fächern, die man mag und die einem Spass bereiten, mehr zu tun. Und sich vor Augen halten: Manche Blumen blühen im Frühling, manche im Herbst. Viele Kinder brauchen einfach mehr Zeit. Und das Gymnasium ist nicht allein seligmachend. Die Schweiz verfügt über ein so tolles Bildungssystem, da kann man schon gelassener sein.

Claudia Landolt
ist Mutter von vier Söhnen und diplomierte Yogalehrerin.

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