Prof. Reichenbach, wie gewinnen Lehrpersonen an Autorität? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Prof. Reichenbach, wie gewinnen Lehrpersonen an Autorität?

Lesedauer: 3 Minuten

Wie besteht eine Lehrperson vor ihrer Klasse? Zu dieser Frage forscht Pädagogikprofessor Roland Reichenbach. Seine Ergebnisse und persönliche Einstellung zu Autorität.

Wir haben sie wohl alle noch in Erinnerung: die Lehrerinnen und Lehrer,
deren blosses Erscheinen im Klassenzimmer dafür sorgte, dass aufmerksame Ruhe einkehrte. Und diejenigen, deren zigfache Ermahnungen uns nicht daran hinderten, Blödsinn zu machen. Vielleicht folgten wir Lehrpersonen vom Typ Nummer eins, weil sie uns einschüchterten. Oft aber hatte unsere Kooperation auch andere Gründe: Auf manche Lehrpersonen hörten wir, weil sie, wie wir fanden, es einfach draufatten.

Wie besteht eine Lehrperson vor der Klasse? «Autorität hat man nicht, sie wird einem zugesprochen – oder eben nicht», sagt Roland Reichenbach. Der ehemalige Realschullehrer ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich und forscht auf dem Gebiet der pädagogischen Autorität. Diese bezeichnet er als Beziehungsleistung, die nur gelingt, wenn andere sie anerkennen. «Eine wichtige Quelle der Anerkennung der Lehrperson als Autorität ist ihr Wissensvorsprung», so Reichenbach. «Wer sein Fach beherrscht, von dem lässt man sich in der Regel auch etwas sagen.» Wir erkennen also an, wem wir Glauben schenken können. 

«Ich sage als Lehrperson ehrlich, was ich denke.»

Roland Reichenbach, Pädagogikprofessor und ehemaliger Realschullehrer

Nebst Glaubwürdigkeit sei Vertrauenswürdigkeit wichtig: «Dabei steht nicht nur das Fachliche, sondern auch das Verhalten im Vordergrund: Ich sage als Lehrperson ehrlich, was ich denke, halte mein Versprechen, treibe keine falschen Spiele. Ich behandle alle Schülerinnen und Schüler gleich.»

Dass es um die Autorität der Lehrpersonen beziehungsweise den Gehorsam der Schülerinnen und Schüler so schlecht bestellt ist, wie Medienberichte es zuweilen vermuten lassen, glaubt Reichenbach nicht: «Nach wie vor sind die meisten Kinder und Jugendlichen kooperativ, lassen sich etwas zeigen.»

Dass Lehrpersonen an Achtung, ja ihre Rollenautorität praktisch ganz verloren hätten, sei etwas, das auch andere Berufe ereilte. So habe man früher unhinterfragt den Rat von Ärzten oder Bankiers befolgt, heute würden diese kritisch betrachtet und Zweit- und Drittmeinungen eingeholt.

Lehrpersonen als Begleiter?

Die Emanzipation der Gesellschaft von Rollenautoritäten habe in vielerlei Hinsicht den sozialen Fortschritt begünstigt, sagt Reichenbach. Nichtsdestotrotz böten Autoritäten im Idealfall aber auch Sicherheit und Orientierung, die Abkehr von ihnen gehe deshalb stets mit Verunsicherung einher. Daraus resultiere wiederum das Bedürfnis nach verlässlicher Führung, offen zutage trete es derzeit in der Politik, wo Populisten dank «sicherer» Rezepte für Ordnung und Stabilität Erfolge feierten.

«Wenn es selbst Erwachsene kaum aushalten, sich selbst überlassen zu sein, sollte das die Frage aufwerfen, wie viel Selbstbestimmung für Kinder gut ist», findet Reichenbach. Die Entwicklung der Lehrerrolle von der Führungsperson zum Lernbegleiter sieht er darum kritisch. Selbstbestimmtes Lernen, also Ansätze, wonach Kinder Stoff in Eigenregie erarbeiten oder ihren Lernfahrplan selbst bestimmen sollen, überzeugen den Pädagogen nicht: «Die Behauptung, es sei kindgerecht, auf Anleitung zu verzichten, dünkt mich ein Irrtum. Es hat etwas Perfides, unsere eigene Ratlosigkeit auf die Kinder abzuwälzen, indem vor allem sie entscheiden sollen.»

«Nichts ist so fragwürdig wie über neue Menschentypen neue Verhältnisse schaffen zu wollen.»

Die deutsche Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle über Arendts Sicht auf die Erziehung. 

Reichenbach sagt, er halte es in dieser Hinsicht mit Hannah Arendt. Die deutsche Philosophin (1906 – 1975) zählt zu den wichtigsten Verteidigerinnen der Demokratie und vertrat mit Nachdruck die Auffassung, pädagogische Erziehung müsse konservativ sein. Arendt verstand darunter das Bemühen von Lehrerinnen und Erziehern, Kindern gegenüber für die bestehende Welt einzustehen, sie zu bewahren und zu schützen. Dass man in der Welt Vertrauen haben und für die Welt hoffen darf, ist Arendt zufolge nämlich eine der wichtigsten Botschaften, die es Kindern zu vermitteln gilt.

«Nichts ist deshalb in Arendts Augen in der Erziehung so fragwürdig wie der Versuch, über die Heranzüchtung neuer Menschentypen neue Verhältnisse schaffen zu wollen», schreibt die deutsche Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle über Arendts Sicht auf die Erziehung. Und weiter: «Die auf Weltverbesserung ausgerichteten pädagogischen Rezepte haben vor allem ein Ergebnis: Das traditionelle Wissen der Eltern wird ausgehebelt und lässt diejenigen schwanken, die dem Kind Bodenhaftung geben sollten.»

Klare Anweisungen, transparente Ziele, strukturierter Unterricht

Für Reichenbach heisst dies, als Lehrperson auf klare Anweisungen, transparente Ziele und strukturierten Unterricht zu setzen. Auf diese Lenkungsfunktion seien vor allem leistungsschwächere Schüler und Kinder aus sozial benachteiligten Familien angewiesen. «Wir dürfen nicht vergessen», sagt Reichenbach, «dass die Schule für viele Kinder der einzige verlässliche, berechenbare Ort ist. Ihnen ist nicht geholfen, wenn wir Strukturen zunehmend aufweichen und Selbstorganisation an deren Stelle rücken. Im Gegenteil, sie werden dadurch noch orientierungsloser.»

Halt vermittle nur eine Führungsperson, die sich nicht scheue, sich auch als solche zu sehen, so Reichenbach. In Frankreich oder in den USA gehe man mit pädagogischer Autorität unbefangener um. So sei im Zusammenhang mit einer Lehrperson ganz selbstverständlich von Leadership die Rede.

Im deutschsprachigen Raum schrecke man jedoch vor dem Führungsbegriff zurück. «Der Missbrauch von Autorität und Gehorsam in der deutschen Vergangenheit wirkt in der Erziehung bis heute nach», so Reichenbach. «Auch in der Deutschschweiz, wo sich die pädagogische Landschaft schon immer stark an Deutschland orientiert hat.»

Dass Autorität zum diffamierten Begriff wurde, sei verständlich, aber problematisch, sagt Reichenbach: «Praktisch jede pädagogische Tätigkeit ist mit Führungsaufgaben verbunden. Darauf verweist schon der Wortteil ‹agoge›. Er leitet sich aus dem griechischen ‹ágein› ab, und damit ist nichts anderes als Führen oder Anleiten gemeint.»

Dass pädagogische Führung heute nicht mehr bedingungslos anerkannt wird, sondern verdient sein will, findet Reichenbach derweil eine begrüssenswerte Entwicklung: «Die Schule hat ihren Heiligenschein eingebüsst. Heute müssen Lehrpersonen ihre Autorität weitgehend selbst herstellen – und dies fällt vielen schwer


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