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Juul: «Wir brauchen eine Diagnose für traumatisierte Scheidungskinder»

Lesedauer: 4 Minuten

Es ist in Mode gekommen, auffälliges Verhalten bei Kindern sofort abklären zu lassen. Das macht in manchen Fällen Sinn, sagt unser Kolumnist Jesper Juul.

Text: Jesper Juul
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Vor ein paar Jahren ­­­­war ich Gastredaktor eines Magazins. In manchen Berichten schrieb ich über die Tatsache, dass immer mehr Kinder und Jugendliche schon in sehr jungen Jahren eine Diagnose erhalten und dass ich das bedenklich finde. Daraufhin bekam ich von vielen Lesern Zuschriften. Einer der eifrigsten Diskutanten kam zum Urteil: «Juul mag keine Diagnosen.»

Andere betonten, dass ihre Kinder nach Jahren der Frustration und Hilflosigkeit endlich eine Diagnose erhalten hätten. Oft werde ich auch gebeten, selbst eine Diagnose zu den Kindern und Jugendlichen zu stellen, über die ich in meiner Kolumne schreibe. Deshalb will ich hier meine Einstellung zu Diagnosen im Allgemeinen klar zum Ausdruck bringen.

Vielleicht sollte ich zunächst anmerken, dass ich nicht befugt bin, irgendwelche Diagnosen zu stellen, was sowohl für Menschen gilt, die mir beschrieben werden, als auch für Menschen, denen ich persönlich begegnet bin. Ich habe auch schon Menschen kennengelernt, denen meiner Meinung nach mit einer Diagnose gedient gewesen wäre.

Ich bin also nicht generell gegen Diagnosen – weder aus fachlichen Gründen noch aus allgemeiner Überzeugung. Ich wende mich jedoch gegen die Tendenz, sofort nach einer Diagnose zu suchen, wenn Erwachsene frustriert sind, weil sie das Verhalten ihres Kindes nicht verstehen. Sie können sich natürlich weigern, ihr eigenes Verhalten als möglichen Faktor zu überprüfen – ein Verhalten, das ich insbesondere bei Lehrpersonen und Pädagogen bedenklich finde.

Diagnosen können sich auch positiv für die Familie auswirken

Wir wissen heute so viel über die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen für das Wohlergehen und Verhalten des Einzelnen, dass vor allem psychologisch geschulte Menschen stets ihr eigenes Verhalten infrage stellen und gegebenenfalls modifizieren sollten, ehe sie nach einer Diagnose für ihr Kind suchen. Meiner Meinung nach kann man dies aber nicht von allen Eltern verlangen, wenngleich man sie stets dazu auffordern sollte.

Vor ein paar Monaten schrieb mir ein Vater: «Unser neunjähriger Sohn hat kürzlich die Diagnose Asperger erhalten. Nach Jahren der Frustration und Hilflosigkeit haben wir endlich eine Erklärung bekommen, warum er so ist, wie er ist, und nicht zuletzt, was wir Eltern anders und besser machen können. Wir waren nicht in der Lage, unser eigenes Verhalten zu ändern, bis wir eine Diagnose erhielten, und erst jetzt ist uns klar, dass wir dies längst hätten tun sollen.»

Soweit ich weiss, hat noch niemand behauptet, dass das Asperger-Syndrom eine Folge gestörter Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sei, und dieses Beispiel illus­triert ausgezeichnet, dass sich Dia­gnosen auch positiv auf das Zusammenspiel in der Familie auswirken können. Etwas Ähnliches sehen wir oft in Paarbeziehungen, wenn nach einer langen Zeit der Frustration, Hilflosigkeit und Konflikte endlich klar wird, dass einer der Partner seit Monaten eine klinische Depression hat.

In den letzten Jahren haben ­viele Erwachsene nachträglich die Dia­gnose ADHS erhalten und nehmen nun Medikamente. Die meisten sind darüber sehr froh und berichten von einer gestiegenen Lebensqualität. Es wird interessant sein, zu hören, wie sie in zehn Jahren darüber denken.

Menschen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung wird ungleich mehr Fürsorge und Sympathie zuteil als lärmenden, aggressiven Kindern und Jugendlichen.

Lassen Sie mich ein Beispiel anführen, bei dem ich tatsächlich auf eine Diagnose hoffe. Ich bin davon überzeugt, dass ein Grossteil der Kinder und Jugendlichen, denen heutzutage verschiedene Verhaltensstörungen zugeschrieben und die manchmal gar von der Schule verwiesen werden – unter anderem, weil die Erwachsenen nicht wissen, wie sie sich ihnen gegenüber kon­struktiv und empathisch verhalten können –, in Wahrheit unter PTBS, einer Posttraumatischen Belastungsstörung, leiden.

Man kann sich fragen, welchen Unterschied das macht. Ganz einfach: Menschen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung wird ungleich mehr Fürsorge und Sympathie zuteil als lärmenden, aggressiven Kindern und Jugendlichen.

Ein weiterer und nicht minder wichtiger Unterschied besteht darin, dass das therapeutische Angebot ein ganz anderes ist. Ich bin ebenso sicher, dass ein erheblicher Teil dieser Kinder und Jugendlichen durch die Scheidung ihrer Eltern traumatisiert wurde – besser gesagt durch das destruktive Verhalten ihrer Eltern vor, während und nach der Scheidung.

Inzwischen ist bekannt, dass selbst relativ zivilisierte Scheidungen den Lernfortschritt eines Kindes um sechs bis zwölf Monate verzögern. Wenn «schlechtes Benehmen» in Kombination mit schwacher intellektueller Leistung auftritt, ist das Fundament für eine problematische Zukunft gelegt. Die gute Nachricht ist, dass sich beides innerhalb des schulischen Rahmens und ohne Medikamente beheben lässt.

Die Folgen von Scheidungen 

In diesem Kontext sind gründliche und qualitative Studien über die Folgen von Trennungen und Scheidungen eine unverzichtbare Notwendigkeit. Mit «qualitativ» meine ich, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen nur selten von ihren tatsächlichen Erlebnissen, Gefühlen und Erfahrungen berichten, wenn sie mit standardisierten Fragen konfrontiert werden.

Es bedarf mehrerer individueller Befragungen mit unterschiedlichem Abstand zur Scheidung selbst. Des Weiteren möchte ich anregen, auch in den Schulen «Scheidungsgruppen» zu gründen.

Scheidungskinder stecken oft in einem doppelten Dilemma. Die Hälfte von ihnen verstummt, wird einsam und zieht sich in sich selbst zurück. Die andere Hälfte wird einsam, ruhelos und aggressiv. Die Erklärung dafür ist wohlbekannt, nämlich dass die Zurückhaltung der Kinder der Rücksicht gegenüber ihren Eltern geschuldet ist. 

Scheidungen sind heute so normal, dass Kinder ihren Schmerz als ungewöhnlich empfinden.

Die andere besteht darin, dass Scheidungen heutzutage so normal und gesellschaftlich akzeptiert sind, dass die Kinder ihren eigenen Schmerz als abweichend und ungewöhnlich empfinden. Es gibt immer andere Kinder in der Klasse, die ebenfalls geschiedene Eltern haben, mit dieser Situation aber scheinbar gut klarkommen. Gerade Scheidungskinder bedürfen eines neutralen Erwachsenen und einer Gruppe von Kindern, die sich in der gleichen Situation befinden. 

Unsere Erfahrungen mit trauernden Kindern lehren uns, dass diese Gruppen nicht nur unglaublich wertvoll für ihre Mitglieder sind, sondern noch ernsteren psychischen und sozialen Problemen vorbeugen. Zudem lassen sich solche Gruppen leicht etablieren und steuern. 

Es gibt viele empathische und kompetente Lehrpersonen und Schulpsychologen und -psychologinnen, die solche Gruppen nach einer kurzen Schulung betreuen könnten.

Das hätte den wichtigen Nebeneffekt, dass die betreuenden Per­sonen einen viel differenzierteren Eindruck von den Schülern und ihrem Verhalten bekommen würden, wo­durch sich viele vorgefasste Diagnosen und Zuschreibungen erübrigen würden.

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

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