Erziehung braucht Beziehung -
Merken
Drucken

Erziehung braucht Beziehung

Lesedauer: 6 Minuten

Wird Erziehung in einem hierarchischen Sinn betrachtet, kann sie sehr zerstörerisch sein. Kinder brauchen von ihren Eltern Führung, aber auch Gleichwertigkeit innerhalb der Familie.

Wenn Eltern feststellen, dass Kinder sich nicht so entwickeln, wie sie es sich vorstellen, oder dass sie sich schlecht benehmen, dann meinen viele, es würde reichen, jemanden zu bitten, die Kinder zu «reparieren». Dass das Verhalten der Kinder vielleicht etwas mit ihnen zu tun haben könnte, übersehen sie gerne. Aber wenn du wirklich möchtest, dass sich dein Kind verändert, musst du dich in erster Linie als Erwachsener verändern – und das heisst nicht nur neue Methoden oder Techniken einführen, sondern du selbst musst anfangen, an dir zu arbeiten. Diesbezüglich bin ich aber recht zuversichtlich: Die Anzahl jener Eltern, die diese Tatsache anerkennen, wächst erheblich.

Es gibt allerdings auch eine neue Gruppierung von jungen Eltern, die so sehr damit beschäftigt sind, Geld zu verdienen, und die diesbezüglich einen abnormen Ehrgeiz entwickeln, dass sie tatsächlich meinen, sich auch ihr Familienglück und ihre Gesundheit mit Geld erkaufen zu können. Sie sind bereit, grosse Summen zu zahlen, nur damit ihr Kind irgendwo gut untergebracht ist, und wenn es dann Probleme gibt, wollen sie die «schwierigen» Dinge möglichst rasch weghaben und zahlen dafür, was immer es kosten mag.

Wenn du wirklich möchtest, dass sich dein Kind verändert, musst du dich in erster Linie als Erwachsener verändern.

Mein Ehrgeiz ist es, Eltern wahrzunehmen: mit ihnen eine gewisse Zeit zu verbringen, um ihnen dann mitzuteilen, was ich beobachte und auf sie zukommen sehe. Worauf ich dabei immer achte, ist, wie ich meine Mitteilungen verpacke, damit meine Worte sie in der Tat erreichen und sie sich darin wiederfinden. Um einen Veränderungsprozess in Gang zu setzen, ist es wesentlich, die Eltern nicht zu verurteilen, sie nicht schlecht und schuldig zu machen. Damit erreicht man gar nichts, ausser dass sie sich ausgesetzt fühlen.

Nachdem ich den Eltern meine Wahrnehmungen mitgeteilt habe, erwähne ich einige Möglichkeiten, wie sich ihr Familienklima verändern könnte, und ich mache auch kein Hehl daraus, dass ich möglicherweise eine von den Möglichkeiten bevorzuge. Sie dürfen dann entscheiden, ob und wie wir weiterarbeiten, denn der erste entscheidende Schritt ist, dass sie sich daran gewöhnen, selber Verantwortung zu übernehmen.

Im Dänischen kann man mit dem Wort «erziehen» zweierlei ausdrücken: «erziehen» im herkömmlichen Sinne von «korrigieren, massregeln», aber auch «erziehen» im Sinne von «grossziehen», und das heisst: jemandem helfen, erwachsen zu werden, ihn ins Leben «hineinziehen». Und diese zweite Bedeutung von «erziehen» ist mir sehr sympathisch.

Die Entwicklung begleiten

Ich bin keineswegs der Meinung, dass Kinder nicht erzogen werden sollten, aber ich meine damit nicht, dass Erwachsene Kinder dauernd korrigieren, sondern ich meine, dass Erwachsene sie ins Leben hinein begleiten können – und dafür brauchen Eltern sehr viel Geduld und Offenheit! Erziehung ist nicht nur aufbauend, sondern sie kann auch sehr zerstörerisch wirken, wenn sie in einem hierarchischen Sinne betrachtet wird: Ich als Vater bin oben und habe immer recht! So kann keine Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern gedeihen. 

Und wenn man Dinge verändern will, dann braucht man Zeit. Man muss Dinge loslassen können. Ein Beispiel: Wenn wir, meine Frau und ich, über das Benehmen unseres Sohnes erstaunt und entsetzt waren, haben wir es uns zur Gewohnheit gemacht, diesen Tag im Kalender rot anzukreuzen. Dann haben wir einen bestimmten Zeitpunkt festgelegt und uns gedacht: Wenn er sich bis dahin nicht verändert hat, dann müssen wir etwas unternehmen.

Und es war tatsächlich jedes Mal so, dass sich immer etwas verändert hat – und eine Intervention überflüssig wurde. Dies hat sich bei uns öfters bewährt: nicht gleich handeln, geschweige denn mit Strafen drohen oder gar bestrafen, sondern erst mal abwarten. Im Deutschen gibt es ein Sprichwort, das hierzu gut passt: Gut Ding braucht Weile.

In einem gegenseitigen Prozess werden beide Seiten «erzogen»

Das merkt man auch bei Erwachsenen, die sich in therapeutischer Behandlung befinden. Klar gibt es Fälle, in denen sich eine echte Veränderung blitzartig einstellt, aber bei den meisten dauert der Prozess bis zu fünfzehn Jahre. Und deshalb ­finde ich es absurd, wenn Eltern die Vorstellung haben, ihre Kinder müssten sich sofort ändern, nur weil sie es sich so wünschen. Statt «Erziehung» – einem Begriff, der Einseitigkeit beinhaltet – müssten wir eine Terminologie finden, die sofort deutlich macht und klar anzeigt, dass es sich um einen gegenseitigen Prozess des Einwirkens aufeinander handelt, dass beide Seiten, die sich in Interaktion befinden, «erzogen» werden.

Beziehung ist insofern ein guter Begriff, als er die Gleichwertigkeit zwischen Eltern und Kindern betont – worauf es tatsächlich ankommt –, nur meine ich nicht, dass die Erwachsenen die Führung abgeben sollen: Kinder kommen mit sehr viel Weisheit, aber sehr wenig Erfahrung zur Welt, sodass sie der Führung durch die Erwachsenen bedürfen. Kinder, denen diese Führung nicht zuteilwird, sind sehr unglücklich, und sie bleiben es, wenn sie älter werden. 

Kinder kommen mit sehr viel Weisheit, aber sehr ­wenig Erfahrung zur Welt. Sie bedürfen der Führung, sonst werden sie unglücklich.

Ich habe beispielsweise mit Menschen gearbeitet, die in einem Kibbuz gross geworden sind. Sie waren alle nicht besonders glücklich. Im Kibbuz ist es Müttern und Vätern nicht erlaubt, die Elternrolle zu übernehmen: Die Gemeinschaft tut das. In Kopenhagen habe ich mal mit einem Paar, beide Mitte 30, gearbeitet, das sich noch Jahre danach bei mir bedanken wollte, und ich wusste gar nicht, wofür.

Sie haben mir erzählt, dass sie beide in einem Kibbuz aufgewachsen seien und überzeugt waren, keine guten Eltern sein zu können, sodass sie sich gegen Kinder entschieden hatten. Nach dem therapeutischen Prozess aber haben sie den Entschluss und den Mut gefasst, doch welche zu bekommen.

Kinder brauchen eine Führung, aber nicht die, die wir ihnen bislang angeboten haben. Sie brauchen eine kontinuierliche Begleitung und keine militärische Oberaufsicht.

Ich habe mit meiner ersten Frau und meinem Sohn bis zu seinem achten Lebensjahr in einer Kom­mune gelebt. Und ich werde den Tag, an dem wir ausgezogen sind, nie vergessen: Mein Sohn war so froh, obwohl er sich bis dahin nie beklagt hatte.

Es gibt keine Alternative zur Familie

In einer solchen Gemeinschaft haben Kinder zwar mehr Gesprächspartner. Aber ich weiss nicht, ob sie sich schneller entwickeln. Es ist sicher für Erwachsene, die keine Verantwortung übernehmen wollen, sehr bequem, aber das, was die Familie dem Kind gibt, kann weder eine Kommune noch ein Nachbar ersetzen. Es gibt zur Familie ­keine Alternative.

In der Familie entwickelt sich der innere Halt des Kindes – das heisst: das Selbstwertgefühl, jene Stimme in uns, die sagt: «Okay, die Welt ändert sich, die Menschen auch, aber zumindest weiss ich, was ich mir selbst bedeute!» Wenn dem so ist, können wir getrost in die Zukunft blicken und nicht jeden Tag aufs Neue schockiert, sondern jeden Tag aufs Neue überrascht sein.

Viele Eltern sagen, sie würden ihre Kinder kennen und ­meinen: ‹Ich kenne sie ­besser als sie sich selbst, daher darf ich sie bevormunden.›

Wenn wir zum Beispiel in einer Partnerschaft leben, können wir uns sagen: «Ich bin gespannt, wer sie heute ist!» Das bedeutet: offen sein. Mit dieser Haltung lädst du jeden in deiner Umgebung ein, sich auch zu öffnen, und schaffst eine Atmosphäre, in der sich jeder frei entfalten kann – und das wiederum ist für Kinder sehr wichtig. Viele Eltern behaupten nämlich, sie würden ihre Kinder kennen, aber damit meinen sie nur: «Ich kenne sie besser, als sie sich selbst kennen, deshalb darf ich sie bevormunden!» Im Grunde kennen sie nur ihre äussere Seite, und auch die besteht zu 80 Prozent aus Projektionen der Eltern.

Sicher kennt man ein Kind gut, mit dem man jahrelang zusammengelebt hat. Zu sagen, du würdest es ganz und gar kennen, ist aber falsch. Du kennst es so, wie es sich dir gegenüber verhält, aus familiären Situationen, du kennst seine spontanen Reaktionen auf bestimmte Dinge, aber du kennst es nicht in seiner Ganzheit, das ist unmöglich, und es wäre vermessen, dies zu behaupten oder es zu beraten.

Eltern können zwar durchaus Ratgeber für ihre Kinder sein, aber nicht indem sie sich aufs Podest stellen und sagen: «Du musst dies oder das tun, denn ich kenne dich! Niemand kennt dich so gut wie ich!» Wäre es nicht angemessener zu sagen: «Schau, so wie ich dich kenne, meine ich, dass dies oder das nicht sehr zu dir passt»? Mit so einem Satz habe ich ausgedrückt, dass ich einen persönlichen Bezug zu meinem Kind habe und dass ich es aufgrund unserer Beziehung kenne und nicht, weil ich über ihm stehe. Das entspricht überhaupt nicht der Wahrheit und muss auch total unpersönlich auf es wirken, sodass ihm nichts anderes übrig bleiben kann, als zu protestieren.

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

Alle Artikel von Jesper Juul

Mehr zum Thema Eltern-Kind-Beziehung:

Erziehung
Wie gelingt eine gute Kommunikation in der Familie?
Im hektischen Familienalltag fällt schnell ein falscher Satz. Wie Eltern lernen, sich auf ihre Kinder einzulassen und die richtigen Worte zu finden.
Elternbildung
«Jugendliche stehen unter hohem psychischem Druck»
Jugendforscher Klaus Hurrelmann sagt, Kinder seien noch nie so früh in die Pubertät gekommen wie heute. Das ändert die Eltern-Kind-Beziehung.
Kinder im Wachstum brauchen ausreichend Vitamine und Vitamin B Strath
Advertorial
Was Kinder zum gross werden brauchen
Für ein gesundes Wachstum benötigen Kinder Vitamine, Mineralstoffe, lebenswichtige Fette – und vieles mehr.
Elternblog
Wie die Geburt, so der Gang ins Erwachsenenleben?
Der Abnabelungsprozess mit dem volljährigen Sohn unserer Redaktorin weist erstaunliche Parallelen zu seiner Geburt auf.
Wenn Eltern ihren Kinder vorlesen. Vater mit Tochter und einem Buch im Bett.
Erziehung
Lesen Sie Ihrem Kind vor
Möchten Sie Ihrem Kind dabei helfen, eine engere Beziehung zu Ihnen aufzubauen und es gleichzeitig in vielen wichtige Bereichen fördern? Dann lesen Sie ihm vor. 
Elternbildung
Wie gelingt eine gute Vater-Sohn-Beziehung? 
Väter sind für Söhne massgeblich in der Identitätsbildung und prägen die Handhabung aggressiver Gefühle.
Elternbildung
Wie gelingt eine gute Mutter-Tochter-Beziehung? 
Mütter prägen ihre Töchter ein Leben lang. Wie stark ist ihr Einfluss und was macht eine gute Mutter-Tochter-Beziehung wirklich aus?
Fabian Grolimund Kolumnist
Blog
Liebe Väter, ich bin sauer!
Nur wenige Männer machen vom Vaterschaftsurlaub ­Gebrauch. Haben Väter noch immer nicht kapiert, wie wichtig sie für ihre ­Kinder sind?
Elternbildung
Wie gelingt eine gute Vater-Tochter-Beziehung? 
Väter fordern ihre Töchter heraus, stärken ihr Selbstwertgefühl und beeinflussen spätere Partnerschaften sowie den beruflichen Weg. Die Beziehung birgt aber auch Schwierigkeiten.
Elternbildung
Wie gelingt eine gute Mutter-Sohn-Beziehung? 
Eine Mutter ist die erste Frau im Leben eines Jungen und prägt ihn sein Leben lang. Sie beeinflusst sein emotionales Gleichgewicht sowie die Zufriedenheit in späteren Partnerschaften.
Schule
«Wie sieht die Schule der Zukunft aus?»
Wie sieht die Schule der Zukunft aus? Vortrag von Prof. Dieter und Nicolas Rüttimann am 14. Juni 2022 in der Stiftung. Für das Kind.
Erziehungsberater Jan-Uwe Rogge: «Es gibt keine negativen Gefühle – das müssen Eltern ihren Kindern vermitteln»
Elternbildung
«Es gibt keine negativen Gefühle»
Der renommierte deutsche Erziehungsberater Jan-Uwe Rogge sagt, Aggressionserziehung sei eine besonders wichtige Aufgabe von Eltern.
Ich erzähle: «Mit der Trennung wuchsen bei mir die Schuldgefühle»
Elternbildung
«Mit der Trennung wuchsen bei mir die Schuldgefühle»
Benno Roth*, Vater von zwei Töchtern, lebt nicht mehr mit der Mutter seiner ­Kinder zusammen. Um diese schwierige Zeit zu bewältigen, brauchte er Hilfe.
Schuldgefühle: Ballast auf der Seele
Elternbildung
Schuldgefühle: Ballast auf der Seele
Tun wir genug für unser Kind? Oder gar zu viel? Sehr viele Mütter und auch immer mehr Väter plagen Schuldgefühle.
Junge sitzt auf dem Bett und kifft
Elternbildung
«Frau Dobler, wie können Eltern mit ihren Kindern über eine Sucht sprechen?»
Suchtexpertin Sabine Dobler sagt, wie Eltern mit ihren Kindern ins Gespräch über problematisches Konsumverhalten kommen.
Medien
Surfen Eltern und Kinder auf verschiedenen Wellenlängen?
Konflikte um die Mediennutzung hängen oft mit unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen zusammen. Forscher haben Spannendes herausgefunden.
Fabian Grolimund Kolumnist
Elternbildung
«Ich mache mir doch nur Sorgen um dich!»
Zu viel elterliche Sorge lädt einem Kind Druck auf, schreibt unser Kolumnist Fabian Grolimund.
Fragen zum Elternsein und Paarleben
Elternbildung
Wie werden Eltern jedem Kind gerecht?
Wir beantworten 19 Fragen zum Thema Elternsein und Paarleben aus dem grossen Dossier: 100 Fragen und Antworten zu Erziehung, Familie, Schule
Moritz Daum: Warum ist Bindung so wichtig für Kinder?
Gesellschaft
«Herr Daum, warum ist Bindung so wichtig?»
Entwicklungspsychologe Moritz Daum über Beziehungsverhalten, Bindung, Frühförderung und warum Langeweile wichtig ist für Kindergartenkinder.
Wie Familie gelingt: Eine Beziehung fürs Leben.
Familienleben
Eine Beziehung fürs Leben
Der Bund zwischen Eltern und Kind ist von grösster Bedeutung. Entscheidend sind Zeit, Geduld sowie die Bereitschaft zu zeigen, dass man sein Kind liebt.
Eltern-Burnout: zu hohe Ansprüche?
Elternbildung
Eltern-Burnout: Lässt sich der Zusammenbruch verhindern?
Eltern stellen hohe Ansprüche an sich selbst. Woher kommt das Gefühl des ewigen Wettlaufs mit der Zeit? Welche Wege führen in ein Burnout?
Kindergärtnerin im Kindergarten
Gesellschaft
«Hilfe, ich mag die Kindergärtnerin meines Kindes nicht!»
Im Kindergarten wird aus dem System Eltern-Kind eine Dreierkonstellation. Antworten auf vier Fragen zu Loyalitätskonflikten zwischen Eltern, Kind und Lehrperson