Schluss mit starren Rollen – zuhören! - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Schluss mit starren Rollen – zuhören!

Lesedauer: 5 Minuten

Viele Eltern flüchten sich gegenüber ihren Kindern in Schauspielerei, weil sie Angst haben, die Führung zu verlieren. Dabei würden ihnen Empathie und ein echter Dialog auch helfen, Grenzen zu setzen.

Was ist der Unterschied zwischen «einer Rolle spielen» und «präsent sein für dein Kind»?  Ich gebe am besten ein Beispiel: Ein acht Jahre altes Kind kommt aus der Schule nach Hause und du merkst, dass etwas nicht in Ordnung ist, und fragst: «Was ist los?» – «Nichts!» – «Aber du siehst nicht glücklich aus! Ist was passiert?» – «Nein, es ist nicht wichtig!» – «Sag es mir doch. Ich sehe, dass etwas nicht stimmt!» – «Also, mein Lehrer war so ungerecht heute. Jemand hat das und das getan, und er hat mich dafür bestraft.»

Selbst wenn Eltern bis zu diesem Punkt präsent waren, hören in diesem Augenblick die meisten auf, zuzuhören. Sie beginnen mit der Schauspielerei und springen in die Rolle der Eltern: «Nun, dann musst du auch etwas angestellt haben!» Warum also sollte dieses Kind dir noch mal etwas anvertrauen, wenn du ihm nicht bis zum Schluss mit Empathie zuhören kannst? Niemand verlangt von dir, Partei zu ergreifen, aber du musst zunächst fürs Kind da sein – du musst dir die ganze Geschichte anhören. Und es ist völlig egal, welches nun die objektiven Tatsachen waren, die zu diesem Konflikt geführt haben: Wesentlich ist, dass das Kind sehr unglücklich ist.

Warum verschanzen wir uns hinter dem Rollen-Ich?

Die meisten Eltern schneiden den Dialog ab, bevor er überhaupt erst richtig angefangen hat, weil sie nicht mehr präsent sind, sondern ihr Rollen-Ich aktiviert haben. Sie haben Angst, die Führung zu verlieren. Wir sind, wenn wir persönlich sind, äusserst verletzbar. Also schützen wir uns lieber rechtzeitig, nur eben auf Kosten anderer – in diesem Fall: des Kindes. Wir verletzen lieber das Kind: Es ist schuldig, es hat gewiss etwas angestellt! Und wir verschanzen uns hinter unserer Rolle, der vermeintlichen Führung, aber verlangen von ihm, dass es weiterhin die Wahrheit sagt – das ist ein unfaires Spiel.

Das, was Eltern mit ihrer Haltung ausdrücken, ist, dass es ihnen viel wichtiger ist, unter Beweis zu stellen, was für «gute Eltern» sie sind, als mit ihrem Kind in Kontakt zu treten. Sie sind von sich selbst absorbiert und nicht wirklich auf Bezug und Dialog eingestellt.

Gerade Frauen müssten wissen, wie schmerzhaft es ist, sich zu öffnen und nicht gehört zu werden.

Es ist anstrengend, dauernd zu überlegen, wie ich die Rolle der Mutter am besten spiele. Was mich sehr verwundert, ist, dass gerade Frauen dieses Spiel mitspielen, denn gerade sie müssten doch wissen, wie schmerzhaft es ist, wenn du dich öffnest und der andere hört dir gar nicht zu, denn er ist bereits dabei, für dein Problem irgendwelche Lösungen zu finden – genau das tun Männer ständig.

Frauen erzählen ihr Problem nicht, weil sie einen grossen Bruder oder Vater brauchen, der ihnen sagt, wo es langgeht. Sie finden die Lösung meist selber. Nur begreifen die Männer nicht, dass ein guter Teil der Lösung darin besteht, darüber zu sprechen. Die Frauen hoffen also, wenn sie sich ihrem Mann, den Eltern oder den Freundinnen mitteilen, und erzählen, was sie momentan quält, dass sie dann einen Ausweg für sich finden. So handeln die meisten Frauen!

Im inneren Dialog gefangene Männer

Viele Männer hingegen tun genau das Gegenteil: Sie denken nur nach – und kommen dann meist mit einem stupiden Vorschlag daher, denn sie verlassen sich nur auf ihren inneren Dialog – und der ist leider nicht sehr bereichernd. Sie drehen sich lieber im Kreis, als von ihren Frauen etwas zu lernen.

Zum Beispiel: Als mein Vater gestorben ist, wollte ich niemanden um mich herum haben, aber das war natürlich nicht möglich. Es kamen alle Verwandten und Freunde. Und für meine Mutter war es sehr hilfreich, denn indem sie jedem Neuankömmling dieselbe Geschichte erzählte, realisierte sie allmählich tatsächlich, dass ihr Mann tot war. Wenn sie allein gewesen wäre, wäre diese Trauerarbeit sehr viel schwieriger geworden, und sie wäre womöglich nicht so leicht darüber hinweggekommen. In dieser Hinsicht haben Frauen mehr Weisheit – und trotzdem sind sie genauso unweise wie die Männer. Wenn es um ihre Kinder geht, dann sind sie auch nicht imstande, zuzuhören.

So hilft ein Dialog den Eltern dabei, Grenzen zu setzen

Immerhin, wenn ich Frauen darauf hinweise, was sie mit ihrem Kind jedes Mal inszenieren, dann wissen sie sofort, was ich meine. Sie haben die Praxis – das, was ihr Kind empfindet, haben sie auch schon oft genug empfunden. So können sie sich in Bezug auf ihr Kind leichter verändern. Für die meisten Männer ist es schwierig; dabei wäre es so hilfreich, wenn sie sagen könnten: «Hör zu, ich lieb’ dich, ich würde gern mit dir sprechen, aber ich weiss nicht, wie … Lehr mich!» Stattdessen sagen sie: «Es gibt dazu nichts zu sagen!» Und weil sie gewohnt sind, einsam zu sein, nehmen sie sogar Konflikte in ihrer Ehe nicht wahr.

Mithilfe des Dialogs kann man auch Grenzen setzen. Ein typisches Beispiel: Es geht um eine Familie mit zwei Kindern, einem Mädchen und einem Jungen. Der Vater möchte, dass sie um 21 Uhr zu Hause sind. Sie kommen aber um 23 Uhr. Der Vater: «Was war los? Was habt ihr euch gedacht, als ihr gesehen habt, wie spät es ist? Was war so wichtig, dass ihr die Uhrzeit vergessen habt?» Nachdem er all das weiss, sagt er: «Jetzt weiss ich, dass ihr mich nicht zum Narren halten wolltet, aber ich möchte, dass ihr von nun an immer um 21 Uhr zu Hause seid, ganz egal, was euch vielleicht wichtiger ist!» Dieser Vater hat sich die Kinder angehört und hat ihre Erlebnisse ernst genommen, sodass es den Kindern nicht schwerfallen wird, seine Regel zu akzeptieren, auch wenn sie etwas brummen werden. Letztlich sagen sie: Okay!

Ohne persönlichen Dialog können Kinder nicht erreicht werden. 

Wenn du aber als Vater sagst: «Wir haben eine Regel ausgemacht.Und eine Regel ist eine Regel. Ihr habt sie zu befolgen!», dann sprichst du unpersönlich und berufst dich auf etwas Äusseres. Die Kinder werden zwar auch «Okay!» sagen, aber sie werden sich denken: «Hol dich der Teufel! Wenn es in dieser Familie nur Regeln gibt, dann mache ich, was ich will!» Und dann machen sie sich immun gegen dich, sie schauen über dich hinweg, als würde es dich nicht mehr geben: Du kannst sie nicht mehr erreichen. Sie sind auch nicht mehr verletzbar: Du kannst sie kritisieren und bestrafen, so viel du möchtest, es ist ihnen egal. – Mit einem persönlichen Dialog hingegen, in dem du sagst: «Ich will», kannst du Kinder erreichen, ja, du kannst sogar Grenzen setzen – und sie werden sie akzeptieren.

Dieser Text stammt aus dem Buch «Wir sind für dich da. 10 Tipps für authentische Eltern» von Jesper Juul. Erschienen 2005 im Kreuz Verlag. Das Buch ist vergriffen.


Jesper Juul (1948 – 2019)

Nehmen Sie Ihr Kind ernst – begegnen Sie ihm mit Respekt. Kinder brauchen keine Grenzen – sondern Beziehung. Eltern müssen nicht konsequent sein – sondern glaubwürdig.

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt.

Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen in Zusammenarbeit mit familylab.ch


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