Besorgte Amerikaner, entspannte Schweden
Merken
Drucken

Besorgte Amerikaner, entspannte Schweden

Lesedauer: 3 Minuten

Eine Mehrheit der amerikanischen Eltern hält Arbeitsmoral und Gehorsam für die wichtigsten ­­Werte in der Erziehung. Schwedische Mütter und Väter dagegen setzen bei ihren Kindern auf Unabhängigkeit und Fantasie. Warum ist das so? Zürcher Forscher sagen: Das liegt am sozioökonomischen Umfeld.

Text: Giuseppe Sorrenti
Bild: Pexels

Viele Lebensbereiche unserer modernen Gesellschaft werden sich weltweit immer ähnlicher. Eine der wenigen Ausnahmen bildet jedoch die Art und Weise, wie wir unsere Kinder erziehen. In den USA neigen Eltern zum Kontrollwahn: Sie wollen über jeden Schritt im Leben ihres Kindes informiert sein. Skandinavische Eltern wiederum geben ihren Kindern extrem viel Freiraum. Für sie ist es wichtig, dass der Nachwuchs Fantasie, Unabhängigkeit und Neugier entwickelt, und sie mischen sich in der Regel viel we­niger in die Entscheidungen ihrer Kinder ein.

Warum nur unterscheiden sich ­amerikanische und skandinavische Eltern in Bezug auf ihren Erziehungsstil so stark? Und warum bekommt die übermässige Kontrolle in Ländern wie den USA momentan so viel Zuspruch?

Matthias Doepke, Fabrizio Zilibotti und ich nutzen in unserer Forschung, die auf verhaltenspsychologischen und soziologischen Er­­­kenntnissen basiert, einen Ansatz aus der Ökonomie, um die unterschiedlichen Erziehungsstile zu erklären. Eltern lieben ihre Kinder und wünschen sich, dass sie glücklich sind. Doch wie man das erreicht, darüber sind sich Eltern und Kinder häufig nicht einig.

Wie wir unsere Umgebung wahrnehmen, bestimmt, wie wir unsere Kinder erziehen.

Als Eltern wollen wir unseren Nachwuchs auf das Leben vorbereiten. Ob wir dabei entspannt bleiben wie die Skandinavier oder stark kontrollieren wie die Amerikaner, hängt zu­­mindest zum Teil vom sozioökonomischen Umfeld ab: Wie wir ­unsere Umgebung wahrnehmen, bestimmt, wie wir unsere Kinder erziehen.

Nehmen wir das Beispiel Ungleichheit. In einer Gesellschaft mit starker sozialer Ungleichheit fürchten Eltern, die sich der grossen Bedeutung von Bildung bewusst sind, ihre Kinder könnten vom «rechten Weg» abkommen und in der Schule versagen. Also reagieren sie mit starker Kontrolle, weil sie alles in ihrer Macht Stehende tun wollen, um dies zu verhindern.

Moderne skandinavische Gesellschaften hingegen verzeichnen ein geringes Ausmass sozialer Ungleichheit. Dort herrscht daher ein entspannterer Erziehungsstil vor. Wenn es den «rechten Weg» überhaupt gibt, so ist das Abkommen davon mit wenig Risiko verbunden und für die Eltern kein Anlass zur Sorge.

Es darf nicht überraschen, dass Gesellschaften, in denen die Einkommensunterschiede im Lauf der vergangenen Jahrzehnte stetig zugenommen haben, heute eher zu einem sogenannten «intensiven Erziehungsstil» neigen als früher. So nehmen amerikanische Eltern viel stärker am Leben ihrer Kinder teil und verbringen durchschnittlich dreimal so viel Zeit mit Bildungsmassnahmen für den Nachwuchs wie Eltern Mitte der 1970er-Jahre.

Erfolgreiche Schulabbrecher

Andere Studien zeigen Ähnliches. Laut der «Word Values Survey» glauben in den USA – einem Land mit hoher sozialer Ungleichheit – 80 Prozent der Eltern, dass Arbeitsmoral und Gehorsam die wichtigsten Werte sind, die man seinen Kindern vermitteln muss. In Schweden wiederum, wo die Ungleichheit besonders niedrig ist, stimmen dem nur 26 Prozent der Eltern zu. Drei von vier schwedischen Erziehungsberechtigten sind vielmehr der Meinung, Unabhängigkeit und Fantasie seien die wichtigsten Werte, die es den Kindern zu vermitteln gelte.

Wie sollte man seine Kinder denn nun am besten auf das Leben und die zu nehmenden Hürden vorbereiten? Es kommt darauf an. Grundsätzlich ist ein intensiver Erziehungsstil weder richtig noch falsch. Doch es gibt Möglichkeiten, die exzessive Kontrolle zu vermeiden, mit der die individuellen Talente der Kinder im Keim erstickt werden.

Eltern in Gesellschaften mit wenig sozialer Ungerechtigkeit pflegen einen entspannteren Erziehungsstil.

So kann das Abkommen vom «rechten Weg» riesige Chancen eröffnen. Was haben Steve Jobs, Mark Zuckerberg, Brad Pitt und John Lennon gemeinsam? Alle sind oder waren wahnsinnig erfolgreich. Und: Alle haben die Schule abgebrochen.

Politische Massnahmen zur Veränderung des Wirtschafts- und Bildungsumfelds können etwas vom Druck nehmen, den Familien derzeit spüren. Eltern trauen sich dann vielleicht, einen entspannteren Erziehungsstil anzuwenden und den Kindern so viel Freiraum zu geben, dass sie sich ihrer wahren Interessen bewusst werden können. Gut möglich, dass die Kinder so mehr Lebensfreude entwickeln.

Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache auf BOLD – Blog on Learning and Development.

BOLD

Die Plattform BOLD, eine Initiative der Jacobs Foundation, hat sich zum Ziel gesetzt, einer weltweiten und breiten Leserschaft näherzubringen, wie Kinder und Jugendliche lernen. Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.

Mehr lesen: www.bold.expert

Giuseppe Sorrenti
ist Wirtschaftswissenschaftler im Department of Economics und am Jacobs Center for Productive Youth Development an der Universität Zürich. Im Januar 2020 wechselt er als Assistant Professor für Mikroökonomie an die ­Amsterdam School of Economics der Universität Amsterdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kinderentwicklung und Humankapitalbildung.

Mehr Texte aus der BOLD-Reihe

Entwicklung
Wie können Kinder mit einer Sprachstörung ihre Gefühle ausdrücken?
Kinder mit Sprachstörungen brauchen Unterstützung, um ihre Emotionen zu bewältigen. Was Eltern und Lehrpersonen tun können.
Entwicklung
Die emotionale Stärke von Jugendlichen fördern
Das Üben von sozialen und emotionalen Fähigkeiten kann die psychische Gesundheit von Jugendlichen verbessern.
Advertorial
Sicherheit für die Kleinsten – so senken Sie das Risiko verschluckter Batterien
Verschluckt ein Kleinkind eine Knopfbatterie, kann das schlimme Folgen haben. Die neue Batterie von Duracell möchte das verhindern.
Lernen
Hyperaktive Kinder brauchen eine günstige Lernumgebung
Kinder mit der Diagnose ADHS haben spezielle Bedürfnisse. Was ihnen beim Lernen hilft, sind eine angepasste Unterrichtsatmosphäre sowie spezielle Lehrmittel.
Familienleben
Wie Eltern ihr Kind richtig loben
Um das Selbstbewusstsein von Kindern zu stärken, ist Lob nicht das wirkungsvollste Mittel.
Lernen
Wie wird die Schule zu einem glücklichen Ort?
Menschen, Abläufe und Orte können Kindern dabei helfen, die Herausforderungen in einer Lernumgebung wie der Schule zu meistern.
Entwicklung
«Schüler profitieren, wenn sie mehr Verantwortung erhalten»
Teenager könnten viel von Gleichaltrigen lernen und Lehrpersonen müssten lernen, sich zurückzuhalten, sagt die Schweizer Lehrerin Renée Lechner im Interview.
Entwicklung
Vorschulkinder können intuitiv multiplizieren und dividieren
Die Forschung in der Entwicklungspsychologie zeigt, dass Vorschulkinder, Kleinkinder und sogar Neugeborene über einige wirklich erstaunliche Zahlenfähigkeiten verfügen.
Entwicklung
Mobbing reduzieren durch Sozialunterricht
Das Fördern der sozialen Verantwortung im Schulunterricht könnte Aggressionen und Mobbing unter Schulkindern reduzieren.
Entwicklung
Mein Bruder, der Draufgänger
Ob Geschwister sich gegenseitig beeinflussen, hängt vor allem von ihrer Beziehung ab. Das gilt auch für ihr Risikoverhalten.
Daniel Paquette: Die unterschätzte Rolle der Väter
Familienleben
Die unterschätzte Rolle der Väter
Wie sich die kindlichen Bindungen an beide Elternteile unterscheiden und ergänzen.
Gesellschaft
Lernen in aussergewöhnlichen Zeiten
Wie können Betreuungspersonen Kinder unterstützen, wenn Fernunterricht notwendig wird? Die besten Tipps.
Mit dir wollen wir nicht spielen!
Gesellschaft
Mit dir wollen wir nicht spielen!
Was Lehrpersonen dafür tun können, dass Kinder Mitschülerinnen und Mitschüler akzeptieren, die Verhaltensauffälligkeiten zeigen, und ihnen mitfühlend begegnen.
Ist guter Schlaf lehrbar?
Entwicklung
Ist guter Schlaf lehrbar?
Viele Jugendliche schlafen nicht genug. Es könnte helfen, wenn wir ihnen erklären, wie wichtig ein gesunder Schlaf fürs Lernen ist.
Angst vor Mathe und die Folgen
Lernen
Angst vor Mathe und die Folgen
Neuere Forschungen zeigen, dass die meisten Kinder mit starker Angst vor Mathematik keine schlechte Leistung in diesem Fach bringen.
Gesellschaft
Erwachsen werden in ungewissen Zeiten
Kinder werden in eine sich immer schneller wandelnde Welt ­hineingeboren. Wie Menschen mit dieser Unsicherheit leben können, soll auch die Schule vermitteln.
Schule der Zukunft
Lernen
Digitales Lernen nach dem Lockdown
Ein robustes und zukunftsfähiges Bildungssystem würde digitale und analoge Lernangebote kombinieren. Möglichkeiten dazu gäbe es viele.
Entscheiden Gene über den Schulerfolg?
Entwicklung
Gene entscheiden über den Schulerfolg – aber anders, als wir denken
Durch die Erziehung und das Verhalten der Eltern nehmen die Gene auch dann Einfluss auf die Entwicklung, wenn die Kinder sie nicht geerbt haben.
Digitaler Wandel bedeutet eine Transformation der Schule
Gesellschaft
Digitaler Wandel bedeutet eine Transformation der Schule
Einfach digitale Geräte im Unterricht einzusetzen, reicht nicht aus. Es braucht ein Umdenken in der Art, wie gelernt und gelehrt wird. 
Legasthenie
Entwicklung
Legasthenie: Förderung bereits im Kindergarten notwendig
Mithilfe von Gehirnscans untersucht Neurowissenschaftler John Gabrieli, was Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Störung von anderen unterscheidet.
Medien
Surfen Eltern und Kinder auf verschiedenen Wellenlängen?
Konflikte um die Mediennutzung hängen oft mit unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen zusammen. Forscher haben Spannendes herausgefunden.