«Bevor ich komplett ausraste, ziehe ich mich zurück» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Bevor ich komplett ausraste, ziehe ich mich zurück»

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Ich erzähle

Karin Lerchi, 50, ist selbständige ­Catering-Unternehmerin. Die allein­er­ziehende Mutter lebt mit ihrer ­13-jährigen Tochter Alva in Zürich. Wegen Corona ist ihre berufliche ­Situation angespannt. Gleichzeitig fordert der Teenager Freiheiten – das provoziert Konfliktsituationen.

«Neulich hat meine Tochter im Streit ‹Chill, Bitch!› zu mir gesagt. Das war heftig! Ich weiss nicht, ob ihr das nur rausgerutscht ist, weil so ein Ausdruck in ihrem Freundeskreis gang und gäbe ist. Vielleicht wollte sie mich aber auch ganz gezielt provozieren, weil sie wütend auf mich war. Natürlich war ich sehr gekränkt! Aber ich habe nicht zurückgeschimpft. Es bringt überhaupt nichts, wenn ich in so einer Situation die Regie an mein beleidigtes Ich abgebe.

Der Auslöser war eines unserer ständigen Reizthemen: Ich hatte Alva verboten, bis 23 Uhr draussen unterwegs zu sein. Es ging um einen Abend unter der Woche, am nächsten Morgen war ein ganz normaler Schultag. Eine 13-Jährige sollte da nicht Party machen, das ist für mich nicht verhandelbar. Dass viele ihrer Freunde trotzdem bis Mitternacht unterwegs sind, macht so eine Diskussion nicht einfacher.

Ich erinnere mich, dass meine Mutter mit mir als Teenager nicht zurechtkam und einfach gar nicht mit mir diskutiert und gesprochen hat. Das hat mich sehr verletzt. Das möchte ich für Alva und mich nicht. 

Unsere Streitigkeiten sind auch dadurch vorbelastet, dass ich oft ziemlich müde bin. Ich muss alle diese Kämpfe allein durchstehen, Alvas Vater hält sich komplett raus aus Erziehungsfragen. Ausserdem verlangt meine Arbeit viele Überstunden, ich habe wenig Zeit für mich. Jetzt kommt noch die Sorge um unsere Existenz dazu. Dieses Lebensgefühl steht in starkem Kontrast zum Freiheitsdenken eines Teenagers. ‹Ich kann das. Ich will das so. Ich bin doch schon gross.› Diese Sätze fallen gerade ständig. Ich muss mich zusammenreissen, um nicht laut und wütend zu reagieren.

Wenn ich spüre, dass ich kurz davor bin, auszurasten, ziehe ich mich ganz bewusst aus dem Streit zurück und entferne mich. Ich erkläre, dass wir mal einen kurzen Break brauchen, und mache zum Beispiel einen kleinen Spaziergang an der frischen Luft. Ich habe mich aber auch schon im Badezimmer eingeschlossen, um mich selbst zu bremsen und nichts zu sagen oder zu tun, was ich später bereuen könnte.

Während dieser Streitpausen versuche ich Alvas Perspektive und ihre Bedürfnisse ab­zuwägen. Ich biete dann Kompromisse an und erlaube ihr beispielsweise, dass sie bis 21 Uhr unterwegs sein kann. Sie kann dann entscheiden, ob sie das annimmt oder eben gar nicht geht. Mit blossen Verboten und abwertenden Urteilen wie ‹Du hast doch keine Ahnung› oder ‹Wie kann man so egoistisch sein› erreiche ich einen Teenager nicht. Dann tut Alva die Dinge hinter meinem Rücken.»


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Dieser Artikel gehört zum Online-Dossier Erziehen ohne Schimpfen. Lesen Sie mehr zum Thema, wie: Kinder verlangen ihren Eltern viel Geduld ab. Ruhig zu bleiben lohnt sich, denn schimpfen bringt nichts. Wie aber funktioniert Erziehung, ohne laut zu werden?


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