Ich denke, also bin ich   - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Ich denke, also bin ich  

Lesedauer: 3 Minuten

Kritisches Denken lässt sich üben. Zum Beispiel am European Youth Forum Trogen EYFT des Kinderdorfes Pestalozzi.  

Aha-Momente hatte Sarah Tachezy während der internationalen Austauschwoche im Kinderdorf Pestalozzi viele. «Dabei habe ich mich bei den Übungen anfangs oft gefragt, warum wir dieses oder jenes genau jetzt machen», erinnert sich die 18-jährige Teilnehmerin. Zum Beispiel während der ersten Übung des Workshops: Knapp zwei Dutzend Jugendliche aus neun europäischen Nationen sitzen im Kreis, unter ihnen Sarah. Alle erhalten einen roten Zettel. Einzige Information: Wer am Schluss am meisten Zettel hat, darf eine Regel für die kommende Woche aufstellen. 

Nach kurzer Diskussion entscheiden sich alle dafür, ihren Zettel einer Person im Raum zu geben, die ihnen vertrauenswürdig erscheint. Wenig später hält die junge Kantonsschülerin alle Zettel in der Hand. Ausser ihrem eigenen. «Ich habe daraufhin die Regel aufgestellt, dass man immer lächeln und sich auf den Tag freuen muss, wenn man den Kursraum betritt.» Sarah Tachezy ist begeistert. Nicht von ihrer temporären Entscheidungsgewalt, sondern von der Arbeitsweise der Pädagoginnen und der Reaktion der Gruppe darauf. «Sie haben uns viel Macht gegeben und dann geschaut, was wir damit machen.» 

Auf Fragen spontan reagieren

Das European Youth Forum Trogen EYFT wurde als Kooperation zwischen der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi und der Kantonsschule Trogen 2017 ins Leben gerufen. Ziel des Forums: Junge Menschen aus verschiedenen Ländern diskutieren über Wege zu einem friedlichen Zusammenleben in Europa. Rebecca Graf, Latein- und Geschichtslehrerin an der Kanti, Workshop-Leiterin und Mitinitiantin des EYFT, ist vom interkulturellen Austausch begeistert, da man so innert einer Woche Europa von innen kennenlerne. 

«Man bekommt hier aus erster Hand viele Einblicke in verschiedene Kulturen und die diversen Facetten des europäischen Kontinents. Durch das Zusammenleben mit Schülerinnen und Schülern sowie Lehrpersonen verschiedener Länder erlebt man die kulturellen Unterschiede im Alltag, entdeckt kulinarische Spezialitäten und findet gemeinsame Kompromisse. Es findet Diplomatie auf kleinstem Raum statt.» Als Lehrkraft sieht sie den grossen Gewinn darin, ohne Lehrplan arbeiten und auf Probleme oder Fragestellungen spontan reagieren zu können. 

Vorurteile erkennen

Rebecca Graf: «Ich schätze die Arbeitsweise im Kinderdorf, die den Teilnehmenden die Möglichkeit gibt, selber erleben und wahrnehmen zu können.» In ihrem Workshop zum Thema Minderheiten habe sie beispielsweise die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche aus einigen Ländern gar nicht wussten, was eine Minderheit ist, beziehungsweise die vorherrschende Situation als gegeben ansahen. Erst in der Diskussion mit Gleichaltrigen hätten sie gemerkt, dass dies gar nicht so sein muss, sagt die Lehrerin. Sarah Tachezy kennt diese Momente. «Es geht darum, Vorurteile zu hinterfragen, diese aber auch anzunehmen und zu diskutieren, falls sie sich bestätigen.» 

Die 18-Jährige teilte am EYFT das Haus mit den Teilnehmenden aus der Türkei, von denen sie anfänglich dachte, dass sie viel religiöser und verkopfter sein würden. Im Gespräch lernte sie patriotische Jugendliche kennen, die ihr Land über alles stellen, Erdogans Politik aber trotzdem nicht blindlings gutheissen. «Mich hat es extrem fasziniert, Menschen zu treffen, die ihr Land lieben, es aber gleichzeitig kritisieren.» 

Rebecca Graf hat das EYFT auch schon als sehr herausfordernd erlebt, beispielsweise als Spannungen zwischen den Gruppen aus der Ukraine und Russland unüberwindbar schienen. «Da hat die Erfahrung der Pädagoginnen und Pädagogen des Kinderdorfes sehr geholfen. Sie kennen die richtigen Übungen und Spiele, um Gruppen wieder zusammenzuschweissen. » Die Entwicklung des Gruppenzusammenhalts in dieser Woche ist für die Kantilehrerin zu einer wichtigen Erfahrung geworden, von der sie auch heute zehrt, wenn es in einer Klasse um Gruppenbildung geht. «Ich konnte meine Palette an Lehr- und Unterrichtsmethoden erweitern und habe viele erlebnisorientierte Ideen, die im Schulzimmer oder im Freien den Unterricht bereichern», sagt sie. 

Gruppenbildende Prozesse 

Die interkulturelle Austauschwoche der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi hat bei Sarah Tachezy in verschiedener Hinsicht Spuren hinterlassen – auch was ihre Berufsziele angeht. Sie habe sich von der Arbeitsweise der Pädagoginnen und Pädagogen inspiriert gefühlt und den Wunsch entwickelt, Lehrerin zu werden oder im sozialen Bereich zu arbeiten. 

Die Workshop-Leitenden hätten es geschafft, aus einer heterogenen Masse in kürzester Zeit eine Gruppe zu bilden. «Sie haben das kritische Denken gefördert, indem sie viele Fragen gestellt und uns den Raum gegeben haben, unsere eigenen Antworten zu finden.» Rebecca Graf erinnert sich gerne an die Schlusszeremonie zurück, während der man nochmals auf die erlebnisreiche und emotionale Woche zurückblickt. «Man hat gestritten und sich wiedergefunden, und das ist so ein starker Moment, dass man gar nicht mehr auseinander will.» 

Für Lehrpersonen: Kritisches Denken im Schulunterricht fördern

  • Schaffen Sie ein Lernklima des Vertrauens und Selbstvertrauens, des respektvollen und wertschätzenden Miteinanders, in dem das Machen von Fehlern und das Ausprobieren von Ideen ausdrücklich erwünscht sind. 
  • Sorgen Sie für die nötige Stimmung für kritisches Denken, indem Sie Zweifel, Verwunderung und Grenzerfahrungen ermöglichen, damit die Lernenden herausgefordert und eingeladen werden, sich auf unbekannte Denkpfade zu begeben. 
  • Ermöglichen Sie «echte» Erfahrungen mit der herausfordernden Realität jenseits des Klassenzimmers als Anlass für kritisches Denken. 
  • Sorgen Sie dafür, dass eine grosse Vielfalt an Perspektiven berücksichtigt und von den Lernenden diskutiert und beurteilt wird. 
  • Räumen Sie Ihren Lernenden ausreichend Zeit für die Kontemplation und für Diskussionen ein. Kritisches Denken entfaltet sich erst mit dem längeren, beharrlichen Nachdenken und Sprechen über einen Sachverhalt. 

 
Quelle: Ein Beitrag von Dr. Dirk Jahn, erschienen auf www.mediamanual.at  


Zum Autor:

Christian Possa ist Fachperson Kommunikation bei der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi.  
Christian Possa ist Fachperson Kommunikation bei der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi.  


Über das Kinderdorf Pestalozzi

Die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi ist ein international tätiges Kinderhilfswerk. Seit 1946 stehen Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Das Kinderdorf in Trogen ist ein Ort der Friedensbildung, an dem Kinder aus der Schweiz und dem Ausland im Austausch lernen, mit kulturellen und sozialen Unterschieden umzugehen. In zwölf Ländern weltweit ermöglicht die Stiftung benachteiligten Kindern den Zugang zu qualitativ guter Bildung.
www.pestalozzi.ch