Gotte sein – nein danke! - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Gotte sein – nein danke!

Lesedauer: 4 Minuten

Ein Patenamt zu übernehmen, ist eine zwiespältige Erfahrung. Unsere Kolumnistin möchte sie nicht noch einmal machen

Text: Silvia Aeschbach
Bild: fotolia.com

Es war der 2. Juli 1979. Ein heisser Sommertag. Ich war das glücklichste Mädchen der Welt. Meine Schwester hatte vor ein paar Stunden ihr erstes Kind geboren. Catherine war just an meinem Geburtstag auf die Welt gekommen. Meine Mutter holte mich an diesem Abend vom Bahnhof ab. «Es isch es Meiteli», flüsterte sie mir ins Ohr und drückte mich so fest, dass ich fast keine Luft mehr bekam. «Und du wirsch Gotti!» Ja, ich wurde Gotti. Und ich hätte platzen können vor Stolz. 

Ich hatte Kinder schon immer sehr gern gehabt, aber das erste Baby in unserer Familie war natürlich etwas Besonderes. Dass sich meine Eltern so sehr freuten, erstaunte mich allerdings. Catherine war nicht geplant gewesen, meine Schwester hatte hochschwanger geheiratet. Ein Umstand, der für meine sehr katholischen Eltern schwer zu verdauen war. Aber dann war die Kleine da und entzückte uns alle. Stundenlang konnte ich sie beobachten, ihre kleinen Händchen, das zuckersüsse Näschen, den Kussmund. Und meine Schwester war froh, dass ich ihr unter die Arme griff und sie in vielem unterstützte. Manchmal, wenn ich sie in den Armen hielt, hatte ich das Gefühl, Catherine wäre mein Kind. Und wenn ich mit ihr spazieren ging und die Leute sagten: «Ganz die Mutter!», nickte ich zustimmend.

Catherine vertraute mir alles an 

Die Jahre vergingen, und Catherine wurde mir immer ähnlicher. Blond, sommersprossig und blauäugig, war sie mein Ebenbild. Aus dem Baby wurde ein Kleinkind, ein Mädchen, ein Teenager. Und was schon von Anfang an klar war, zeigte sich mit der Zeit immer stärker: Uns verband vieles, nicht nur äusserlich, sondern auch vom Wesen her. Wenn Catherine mich besuchte, schlief sie stets in meinem Bett, vertraute mir ihre Geheimnisse und ihren ersten Liebeskummer an. «Du bisch s beschti Gotti uf dä Wält», sagte sie jeweils zu mir, und ich schmolz dahin. Wir waren zwei vom gleichen Stern. Catherine war kein verwöhntes Kind. Wenn sich andere Kinder und Jugendliche teure Geschenke wünschten, genügte ihr eine Kleinigkeit. Wenn man ihr etwas Teures geben wollte, sagte sie leicht strafend und sehr vernünftig: «Gotti, das hat zu viel gekostet. Du musst dein Geld zusammenhalten.» Oft verblüffte sie uns mit einer inneren Weisheit und Abgeklärtheit. Wir scherzten dann: Catherine ist eine alte Seele. Und manchmal tauschten wir auch unsere Rollen. Als mein damaliger Freund auf Weltreise ging und ich traurig war, tröstete sie mich: «Gotti, man muss die Männer ziehen lassen, dann kommen sie zu einem zurück.» Da war Catherine 17 Jahre alt.

Die Jahre vergingen, und Catherine wurde mir immer ähnlicher. Uns verband vieles, auch von unserem Wesen her.

Ein paar Jahre später dann fragte mich eine sehr gute Arbeitskollegin, ob ich nicht Gotte ihres Sohnes werden wollte. Ich war begeistert und sagte sofort zu. Einerseits fühlte ich mich geehrt, andererseits hatte ich ja sehr gute Erfahrungen gemacht. Was sollte da schiefgehen? Kurz gesagt: alles. Heute ist Max 18-jährig, und ich muss rückblickend sagen: Ich war eine schlechte Gotte, denn ich fand einfach keinen Bezug. Ich hatte wegen meiner engen Bindung zu Catherine gedacht, dass es automatisch auch wieder so werden würde. Aber da war nichts Verbindendes. 

Natürlich fand ich ihn als kleinen Buben herzig, aber als Teenager wurde er mir fremd, und manchmal nervte er mich auch. Ich erinnere mich an ein Weihnachts-Shopping, während dem wir keine drei Worte miteinander wechselten. Ich hielt Max für ein verbocktes Kind, und für ihn war ich sicher eine doofe Alte, die sich einmal im Jahr Zeit für ihn nahm und die nicht einmal seinen Geburtstag auswendig kannte. Max war für mich ein fremder Planet, den ich in den ersten Jahren erobern wollte, aber als ich merkte, dass nichts von ihm zurückkam, erlahmte mein Interesse an ihm.

«Ich bin schwanger. Würdest du …?»

Zum Glück hatte er einen engagierten Götti, der viel mit ihm unternahm. Auch Max’ Mutter, mit der ich trotz gescheiterter Patenschaft noch immer eng befreundet bin, war tolerant. Sie hatte schnell gemerkt, dass es zwischen mir und Max nicht funkte. Natürlich frage ich auch heute noch regelmässig bei ihr nach, wie es Max geht, aber interessiert es mich auch wirklich? Neulich sagte seine Mutter zu mir: «Er redet jetzt richtig viel», und ich verstand den Fingerzeig. «Oh, das ist doch schön, dann gehe ich bald einmal mit ihm mittagessen.» 

Irgendwie habe ich die Hoffnung, dass sich unser Kontakt doch noch verbessern wird. Aber ich habe auch ein bisschen Angst davor, dass der erwachsene Max einmal fragen wird: «Warum hast du dich eigentlich nie um mich gekümmert?» Und dann kann ich ja nicht sagen: «Du warst mir immer fremd.» Oder doch? Vor wenigen Wochen ging ich mit einer jüngeren Freundin essen. Beim zweiten Glas Wein schaute sie mich vielsagend an mit einem Blick, den ich kannte. «Ich bin schwanger. Würdest du … ?» Ich liess sie nicht ausreden. «Das ist lieb, und ich fühle mich geehrt, aber ich bin mit zwei Patenkindern voll bedient.»

Ein Kind ist eine Wundertüte 

Ich mag es nicht, wenn ich nicht weiss, was mich erwartet. Und ein Kind ist eine Wundertüte, man weiss nie, was man bekommt. Als Eltern spielt das keine Rolle, man kann nicht wählen, und sein eigen Fleisch und Blut liebt man ja meistens. Kürzlich klagte eine Freundin, dass sich ihr Patenkind zum 14. Geburtstag eine Golfausrüstung gewünscht habe. Und eine andere, die ein Sparkonto für ihren Gottenbub angelegt hatte, bekam an seinem 18. Geburtstag einen Telefonanruf von ihm, während dem er sie aufforderte, «mal die Kohle rüberwachsen » zu lassen. Vor ein paar Jahren klagte ein Freund, dass er sein Patenkind zu dessen 20. Geburtstag mit einer Reise nach Paris überraschen wollte, dieses aber nur schnöde bemerkte: «Die Gotte von Marc fliegt mit ihm nach New York.»

Ich habe Angst, dass aus schnuckeligen Babys muffige Teenager werden, dass ich dem Kind nicht gerecht werde.

Natürlich sind es nicht in erster Linie die materiellen Ansprüche, die mich dazu bringen, dass ich nie mehr Gotte werden will. Ich habe Angst, dass aus schnuckeligen Babys muffige Teenager werden, dass ich dem Kind nicht gerecht werde oder, noch schlimmer, dass es mir nicht sympathisch ist und dass sich coole Eltern zu biederen Zeitgenossen entwickeln, die an Geburtstagen eine hemmungslose und offensive Erwartungshaltung an den Tag legen. Und ich habe keine Lust auf zusätzliche Verantwortung. Damit bin ich nicht allein. Natürlich gibt es die Freunde, die fünf Patenkinder haben und mit jedem regelmässig Zeit verbringen und natürlich von allen den Geburtstag und die Blutgruppe kennen. Aber diese sind in der Minderzahl.

Kürzlich feierte Catherine Hochzeit. Beim Nachtessen wurde jeder Gast vorgestellt. Als ich an der Reihe war, sagte sie: «Das ist mein Gotti, das mich so vieles gelehrt hat.» Ich war gerührt. Und was Max betrifft, so habe ich ihm sicher unrecht getan. Auch wenn er das vielleicht gar nicht so empfindet. Er hat ja genug Menschen um sich herum, die ihn lieben und ihn verwöhnen. Trotzdem werde ich jetzt dann mal mit ihm essen gehen. Vielleicht können wir ja Freunde werden.

Silvia Aeschbach
ist Redaktorin Gesellschaft bei der «SonntagsZeitung» und Blogautorin beim «Tages-Anzeiger».

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