«Herr Frick, gibt es das typische Lieblingskind?»
Das eine Kind den anderen vorzuziehen, ist für Mütter und Väter ein Tabu. Trotzdem kommt es sehr oft vor, sagt Jürg Frick. Der Psychologe über Lieblingskinder, zu hohe Ansprüche an die Elternschaft und ungeklärte Konflikte aus der eigenen Kindheit.
Ein kalter Wintertag in Uerikon ZH. «Es ist gleich da vorne», sagt Jürg Frick und zeigt auf einen weissen Neubau. Dort angekommen, schliesst der Psychologe seine Haustür auf, führt Redaktorin und Fotografen die Treppe hinauf und durch die grosse Stube in sein Behandlungszimmer, wo er normalerweise seine Patienten empfängt. Heute erzählt er uns hier über seine Erkenntnisse aus der Geschwisterforschung.
Herr Frick, Eltern haben ihre Kinder alle gleich lieb, oder?
Das ist der Anspruch aller Eltern – die Realität sieht oft anders aus.
Eine überraschende These.
Die von Studien belegt wird. Ein Kind steht Mutter oder Vater meist – oder zumindest vorübergehend – näher als das andere. Kinder sind individuelle Persönlichkeiten mit einer breiten Palette von Eigenschaften, Verhaltensweisen, Neigungen und einem charakteristischen, unverwechselbaren Aussehen. Und all das trifft auf die unbewussten Erwartungen, Vorlieben, Abneigungen und Erfahrungen der Eltern. Die Tochter zum Beispiel verhält sich ähnlich wie die geliebte Mutter, während der Sohn dem verhassten Vater ähnelt. Durch solche Assoziationen lösen Kinder unbewusst starke Projektionen, Gefühle und Wünsche auf die vorgeprägten Eltern aus.
Gibt es das typische Lieblingskind?
Eltern bringen in der Regel für diejenigen Kinder am meisten Sympathie auf, die ihnen am ähnlichsten sind. Aber nicht nur! Familienkonstellationen sind immer ein komplexes Konstrukt, und es gilt genau hinzuschauen, wie die mütterliche und die väterliche Seite dort hinein spielen.
Offen zuzugeben, dass man ein Kind lieber hat, gehört zu den Tabus des Elternseins.
Richtig. Und hängt mit der Vorstellung zusammen, dass Eltern immer gerecht und fair sein sollen, sonst ist man keine gute Mutter beziehungsweise kein guter Vater. Aber sich immer in dieser Weise zu verhalten, ist schlicht unmöglich. Wenn man sich dennoch an diesem Anspruch misst, bekommt man schnell einmal Schuldgefühle.
In früheren Zeiten hat es doch viele Vernachlässigungen gegeben, beispielsweise weil man sich anstatt eines Mädchens einen Jungen als Stammhalter gewünscht hatte.
Und dorthin will keiner zurück. Mir geht es vielmehr um die Überhöhung der Elternschaft, die zu hohen Perfektionsansprüche. Heutzutage muss ich meine Kinder permanent lieben, alle gleich behandeln, Zeit haben für sie und sie optimal fördern, und das alles 24 Stunden am Tag.
Eltern, die mehrere Kinder haben, wissen, wie schwer es ist, auf alle immer gleich stark einzugehen.
Ja, aber es ist gar nicht nötig und auch nicht möglich, diesen Anspruch zu erfüllen! Wenn man das machen würde, würde man dem Kind beibringen: alle meine Wünsche und Bedürfnisse werden immer sofort erfüllt! Das ist nicht sinnvoll. Natürlich, je jünger ein Kind ist, desto eher muss man zeitnah seine Bedürfnisse befriedigen. Eine 2-Jährige kann sich morgens ihr Konfibrot nicht selbst schmieren, eine 6-Jährige schon.
«Bevorzugungs- und Ablehnungsprozesse geschehen unbewusst.»
Wie sehr schaden Eltern ihrem Kind, wenn sie das Geschwister vorziehen?
Erst einmal: bewusste Benachteiligungen sind sehr selten. Bevorzugungs- und Ablehnungsprozesse laufen in der Regel unbewusst ab. Nun kommt es darauf an, wie intensiv meine Gefühle als Mutter beziehungsweise Vater sind, wie sehr sie mehr Probleme und dann wieder mit dem anderen – oder nur in bestimmten Situationen. Das ist ganz normal und erst einmal kein Grund zur Beunruhigung.