«Zwei Wohnorte verunsichern ein Kind» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Zwei Wohnorte verunsichern ein Kind»

Lesedauer: 4 Minuten

Verträumt, unaufmerksam und unkooperativ – Die Mutter des neunjährigen Belas fragt sich, weshalb ihr Sohn sich so verändert hat. Und bittet Jesper Juul um Rat.

Die Leserin schreibt:

Ich lebe mit meinem neunjäh­rigen Sohn Bela getrennt von seinem Vater. Wir haben uns getrennt, als unser Sohn vier alt war. Obwohl die Trennung sehr anstrengend verlief, waren wir uns in Bezug auf Bela meistens einig. Wir haben unsere Differenzen nicht über unseren Sohn ausgetragen.

Ich arbeite selbständig, drei Tage pro Woche ist das Kind bei einer Tagesmutter. Jeden Dienstagabend geht Bela zu seinem Vater und kommt am Donnerstag zurück. Die Wochenenden teilen wir auf. Jeden zweiten Samstag wohnt er bis Sonn­tag beim Vater. In den Ferien ver­bringt er zwei bis drei Wochen bei ihm, den Rest bei mir oder bei Verwandten.

Bela ist ein kreatives, offenes und  flexibles Kind und hat ganz tolle Sei­ten. In der Schule bereiten ihm die Selbstorganisation und die Grafo­motorik allerdings Schwierigkeiten, und es wurde bei ihm zudem eine Lese-­ und Schreibschwäche festge­stellt.

« Kinder denken und betrachten viel langsamer als Erwachsene. »

Jesper Juul

Seit einiger Zeit fordert mich Bela sehr. Erst hat er beim Zähneputzen komplett dichtgemacht und mir vor­geworfen, ich sage immer, er sei noch zu klein und dumm und er dürfe nichts selbst machen. Was mich extrem erstaunt hat, da ich eher grosszügig bin und ihm viele Dinge zutraue.

In anderen Bereichen behandle ich ihn tatsächlich wie ein Klein­kind. Ich weiss nicht, wie o  ich ihn schon gebeten habe, seinen Ruck­sack auszuräumen, die Schuhe nicht nass aufs Parkett zu stellen, die Hän­de mit Seife zu waschen (ich bin immungeschwächt), die Toilette zu spülen, das Geschirr abzuräumen. Doch ihm scheinen diese Dinge komplett egal zu sein. In Gedanken ist er ganz woanders.

Ich bestrafe ihn nicht dafür. Statt­dessen renne ich hinter ihm her und predige. Das muss ihn unheimlich nerven. Mich nervt es auch.Über Konflikte und Gefühle zu reden, hasst er und versucht sich zu entzie­hen. Irgendetwas mache ich dabei wohl falsch.

Inzwischen haben wir ein ge­meinsames Gespräche vereinbart, einmal die Woche. Ich habe Bela gesagt, dass ich ihm gerne zuhören und von ihm gehört werden möchte. Das fand er viel überzeugender als «ich will mit dir reden».

Wie kann ich unsere Beziehung und Situation ändern? Wie weiss ich, was ich ihm an Verantwortung übertragen kann, ohne ihn zu über­fordern? 

Jesper Juul antwortet:

Haben Sie vielen Dank für Ihr Ver­trauen und die sehr gute Be­schreibung Ihrer Familiensituation. Es besteht kein Zweifel, dass Sie und Ihr Mann sich in Bezug auf Belas Leben und Wohlergehen grosse Mühe geben. Was also will Ihnen sein Verhalten sagen?

Gegen Ende meiner Antwort werde ich Ihnen meine «Überset­zung» seines Verhaltens geben. Ich schlage vor, dass Sie ihm diese bei Ihrem nächsten Treffen vorlesen. Seine Reaktion darauf ist die ultima­tive Rückmeldung für uns alle.

Versetzen Sie sich in die Lage des Kindes

Wenn Eltern versuchen, das «Richtige» für ihr Kind zu tun, und dabei sehr offen sind, fühlt sich das Kind in diesem Moment wirklich geliebt und geschätzt. Gleichzeitig macht diese Erfahrung es dem Kind aber unmöglich, seine unbehagli­chen Gefühle auszudrücken.

Ich schätze, dass diese Erfahrung einen Teil von Belas unangenehmen Gefühlen ausmacht und diese Reak­tion hervorruft , wenn Sie mit ihm über Emotionen und Konflikte reden möchten.

Ein anderer Aspekt des Problems resultiert aus Ihrem Eifer und Ihrer Entschlossenheit, «Probleme» zu analysieren und zu lösen. Kinder denken und betrachten viel langsamer als Erwachsene. Oft ist es besser zu sagen: «Hör zu, ich habe über XY von heute Morgen nachgedacht und möchte wissen, was du darüber denkst. Bitte lass es mich wissen, sobald du weisst, was du sagen möchtest. Solltest du es vergessen, werde ich dich in ein paar Tagen wieder danach fragen.»

« Kinder nehmen zu viel Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Eltern. »

Von der Art und Weise, wie Sie Ihre momentane Familiensituation beschreiben, erhalte ich den Ein­druck, dass Bela einen Zeitplan hat, der für ihn zu anspruchsvoll ist, um ihm folgen zu können. Meine Erfah­rungen zeigen, dass die meisten Kinder das Gefühl haben, eine Rege­lung, bei der sich die Wohnorte nur wöchentlich wechseln (sieben Tage beim Vater, sieben bei der Mutter), sei das optimale Arrangement für sie. Dies gilt, bis sie in die Pubertät kommen und ihren Zeitplan besser ihren persönlichen Bedürfnissen anpassen können. Das Problem für Eltern besteht darin, dass Kinder zu viel Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Eltern nehmen, sich anpassen und deswegen dazu neigen, zu «lügen», wenn wir sie fragen.

Ihren Sohn verstehe ich so: «Lie­be Eltern, ich wünschte, ich könnte euch erzählen, wie hart es für mich ist, so zu leben, aber ich kann die Worte dafür nicht  finden und ich habe Angst davor, dass ihr euch über mich ärgert, wenn ich es sage. Manchmal fühle ich mich wie ein viel kleineres Kind und benehme mich kindisch, und manchmal möchte ich einfach NEIN sagen und frech sein. Ich weiss, was ihr von mir erwartet, aber das ist zu viel. Ich bin erst neun Jahre alt.»

Mein Vorschlag ist, dass Sie ihm erzählen, was Sie mir geschrieben haben, und ihn fragen, ob er hören beziehungsweise lesen möchte, was meiner Meinung nach in seinem Kopf vorgeht. Wenn Sie und er gewillt sind, das zu tun, gibt es zwei Möglichkeiten: 

  • Meine Worte werden ihn bewe­gen, und er wird Ihnen erzählen, was Sie wissen müssen. Sie und sein Vater müssen dann einen oder zwei alternative Zeitpläne erarbeiten und ihn bitten, zu wäh­len. Bitten Sie aber NICHT ihn um alternative Vorschläge. Dies ist Ihr Job als Eltern. Erinnern Sie sich immer daran, wie extrem loyal er Ihren Bedürfnissen gegenüber ist.
  •  Er widerspricht mir. In diesem Fall müssen Sie von diesem Punkt aus weitergehen und Ihre Kreati­vität und Flexibilität nutzen, um die Bedürfnisse aller zu kombinie­ren.

Ich wünsche Ihnen viel Glück!


Jesper Juul

ist Familientherapeut und Autor zahlreicher internationaler Bestseller zum Thema Erziehung und Familien. 1948 in Dänemark geboren, fuhr er nach dem Schulabschluss zur See, war später Betonarbeiter, Tellerwäscher und Barkeeper. Nach der  Lehrerausbildung arbeitete er als Heimerzieher und Sozialarbeiter und bildete sich in den Niederlanden und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Seit 2012 leidet Juul an einer Entzündung der Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im Rollstuhl. Jesper Juul hat einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter Ehe geschieden.

Jesper Juul schreibt regelmässig exklusiv in der Schweiz für das Elternmagazin Fritz+Fränzi. Bestellen Sie jetzt ihr Abo!