Psychische Gewalt: «Eltern sind verantwortlich für die Beziehung»
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«Eltern sind verantwortlich für die Qualität der Beziehung»

Lesedauer: 4 Minuten

Martina Schmid berät beim Elternnotruf Mütter und Väter, die nicht mehr weiterwissen. Psychische Gewalt, weiss sie, kann dann ins Spiel kommen, wenn Eltern unrealistische ­Erwartungen ans Kind haben oder ihm die Verantwortung für elterliche Gefühle aufbürden.

Interview: Virginia Nolan
Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo

Frau Schmid, wann kommt es zu ­psychischer Gewalt gegenüber ­Kindern?

Oft passiert psychische Gewalt dann, wenn Eltern sich ohnmächtig fühlen oder überfordert, ihr Stresspegel steigt. Jobprobleme, die Nachbarn, Zeitdruck, Erwartungen an sich selbst oder fixe Vorstellungen davon, wie es richtig laufen sollte: All dies kann die Belastung in herausfordernden Erziehungssituationen verstärken und Eltern unter Druck setzen. Ob es ihnen gelingt, gewaltlos zu handeln, hängt stark davon ab, ob sie über Strategien verfügen, um Stress und Überforderungsgefühle zu regulieren, wie gut es ihnen gelingt, zu priorisieren – und davon, ob sie realistische Er­wartungen ans Kind haben.

Was meinen Sie damit?

Mir fällt etwa auf, wie ­viele Eltern von Kleinkindern erwarten, dass diese ihre Emotionen selbst regulieren und ihr Verhalten steuern können. Kleine Kinder sind noch nicht in der Lage, ihre Gefühle einzuordnen und auszuhalten, sondern auf Eltern angewiesen, die sie dabei unterstützen, dies zu üben. Übersteigerte Erwartungen erzeugen Hilflosigkeit. Gleiches bewirken Eltern, wenn sie dem Kleinkind unterstellen, es wolle sie absichtlich ärgern. Auch wenn es sich für sie so anfühlen mag: In seiner Überforderung braucht das Kind die Eltern besonders und will sie bestimmt nicht gegen sich aufbringen.

Martina Schmid arbeitete 20 Jahre als Primarlehrerin und Heil­pädagogin, bevor sie sich in systemisch-lösungsorientierter Therapie weiterbildete und auf Familienberatung und Paartherapie spezialisierte. Die dreifache Mutter ist lang­jährige Beraterin beim Schweizer Elternnotruf. (Bild: Désirée Good / 13 Photo)

Mit welcher Form von psychischer Gewalt sind Sie oft konfrontiert?

Dass Eltern ihr Kind anschreien, demütigen oder Drohungen aussprechen, sind die am stärksten verbreiteten Formen von psychischer Gewalt. Häufig rufen Eltern nach destruktiven Konflikten an, wenn die Kinder schlafen und Schuldgefühle aufkommen. Im Gespräch wird ihnen manchmal auch bewusst, dass sie mit ihrem Verhalten Gefahr laufen, die Beziehung zum Kind aufzugeben. 

Was heisst das?

Mitunter fällt es Eltern aus Wut, Enttäuschung oder Überforderung schwer, dem Kind in konfliktreichen Zeiten mit Zuneigung und Aufmerksamkeit zu begegnen, weil sie das Gefühl haben, ihre Bemühungen brächten sowieso nichts. Dann kommt es vor, dass Eltern irgendwann sagen: Mach, was du willst, du hörst ja sowieso nicht auf uns.

Was macht das mit dem Kind?

Wenn sich Eltern als Haltgeber und Orientierungspfeiler zurückziehen, lassen sie das Kind ins Leere laufen. Diese Form von psychische Gewalt kann seine Entwicklung gefährden. Auch wenn gerade Jugendliche Meister darin sind, Eltern emotional herauszufordern und ihnen das Gefühl zu geben, sie kämen ohne sie klar – das Gegenteil ist der Fall. Die Adoleszenz gehört zu den schwierigsten Entwicklungsaufgaben und verunsichert Jugendliche. Dann brauchen sie Gewissheit, dass im Hintergrund jemand ist, der zu ihnen schaut, präsent bleibt und Beziehungsangebote macht.

Was, wenn das Kind die zurückweist?

Das kann passieren. Hauptsache, Eltern hören nicht damit auf. Ein Beziehungsangebot muss keine Gesprächseinladung sein – man kann dem Kind sein Lieblingsessen kochen oder fragen, ob es etwas unternehmen möchte. Deswegen werden sich die Dinge nicht gleich einrenken, aber die Botschaft ist klar: Ich bin da. Ich interessiere mich für dich. In gewissen Phasen verläuft Beziehungspflege tatsächlich einseitig. Klar, Zurückweisung tut weh. Aber es liegt an uns Eltern, mit diesem Schmerz einen Umgang zu finden – nicht in der Zuständigkeit des Kindes, uns nicht zu kränken. Wir Eltern tragen die Verantwortung für die Qualität dieser Beziehung. Sie dem Kind aufzubürden, indem man es für die eigenen Gefühle verantwortlich macht, ist eine Form von psychischer Gewalt.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Ich erlebe oft, dass Eltern ihrem Kind sagen, es mache sie traurig, wenn das Kind beispielsweise nicht gehorcht. Es ist etwas anderes, dem Kind zu sagen, man sei mit seinem Verhalten nicht einverstanden. Forciert man hingegen eine Koopera­tion, indem man an sein schlechtes Gewissen gegenüber der traurigen Mutter appelliert und zum Trost auf sein Einlenken hofft, drängt man das Kind in eine Rolle, die es überfordert und langfristig emotional verunsichert. Dennoch ist die Strategie verbreitet, sei es im Umgang mit Kleinkindern oder beim Clinch mit den Hausaufgaben.

Bei den Hausaufgaben ist die verbale Keule oft nicht weit. 

Ja, weil Eltern von eigenen Emotionen überrollt werden: von Ohnmacht angesichts der Tatsache, dass ihr Kind seiner Pflicht nicht nachkommt, von Sorge über Konsequenzen, die das auf seine Zukunft haben könnte, und Scham angesichts der Frage, wie man als Eltern bei der Lehrperson dasteht. Dies führt mitunter zur totalen Überforderung, die Eltern ihr Kind abwerten, bedrohen oder ausschimpfen lässt.

Eltern können nicht alles perfekt machen. Sich selbst gegenüber versöhnlich zu sein, hilft auch, Druck abzubauen.

Wie ginge es besser?

Manchmal hilft es, statt der Soll-Erwartungen die Frage im Blick zu haben, was zielführend oder hilfreich sein könnte. So nützen oft ­kleine Veränderungen, etwa Ort und Zeit für die Hausaufgaben zu überdenken oder der Agenda des Kindes mehr Luft einzuräumen. Mitunter hilft nichts, jedenfalls nicht sofort. 

Was dann?

Dann muss ich mir überlegen, ob ich mich auf einen Dauerkampf mit dem Kind einlasse oder mich für eine Veränderung entscheide. Ich kann etwa versuchen, die Zuständigkeit für die Hausaufgaben da zu belassen, wo sie hingehört: bei der Schule. Dann geht das Kind ohne Hausaufgaben hin oder schläft mal schlecht, weil es nicht gelernt hat.

Ein Kind negative Erfahrungen machen und daraus lernen zu lassen, bedeutet nicht, als Elternteil zu versagen. Es ist aber ratsam, die Lehrperson über dieses Vorgehen zu informieren. Entscheidungen zu fällen und Rollen zu klären, kann Druck rausnehmen. Dies sage ich auch aus Sicht der Lehrperson, die ich lange war. Manche Entwicklungsschritte brauchen Zeit. Eine klare Haltung und Zuversicht haben eine starke Wirkung, auch wenn das Kind nicht sofort tut, was man von ihm erwartet. Die Botschaft kann etwa lauten: Mir ist wichtig, dass du lernst, Dinge zu erledigen, auch wenn du keine Lust dazu hast. Noch gelingt es nicht, aber wir arbeiten dran.

Angenommen, Eltern haben ihr Kind angeschrien, es herabgewürdigt, und bereuen es. Wie gehen sie vor?

Man nimmt das Kind in einem ruhigen Moment beiseite und sagt ihm: Es war nicht gut, wie ich mich dir gegenüber verhalten habe. Ich wünschte, ich hätte dich nicht angeschrien, und ich entschuldige mich dafür. So lernt das Kind, wie Menschen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Erziehen ist mitunter sehr anspruchsvoll. Eltern können nicht alles perfekt machen. Das müssen sie auch nicht. Sich selbst gegenüber versöhnlich zu sein, hilft auch, Druck abzubauen.

Wann sollten Eltern fachliche Hilfe in Anspruch nehmen?

Wenn sich das Gefühl einstellt, dass sie sich dem Kind gegenüber so verhalten, wie sie es nicht möchten, sie aber Schwierigkeiten haben, diese Muster zu durchbrechen. Hilfe zu suchen, ist keine Schwäche, es zeugt von Eigenverantwortung.

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

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