Darf es in einer Familie zwei Erziehungsstile geben?  - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Darf es in einer Familie zwei Erziehungsstile geben? 

Lesedauer: 4 Minuten

Vater und Mutter müssen vor dem Kind nicht immer an einem Strang ziehen. Eltern sollten sich aber darin einig sein, dass sie verschieden sind – und einander wertschätzen.

Ein Vater fragt:
«Welche Auswirkungen kann es für meine Kinder haben, wenn es zwei verschiedene Erziehungsstile in der Familie gibt? Können Kinder damit umgehen, wie sie es auch bei anderen Erwachsenen tun, etwa bei den Gross­eltern oder bei Lehrpersonen?»

Jesper Juul antwortet darauf:

Diese Frage beschäftigt viele Eltern. Darum möchte ich die Antwort möglichst allgemein halten. Vor gar nicht so langer Zeit wurde von Experten noch empfohlen, dass Eltern sich in Erziehungsfragen immer einig sein sollen. Ein Grund dafür war, dass für viele Eltern der tägliche Umgang mit den Kindern zu einem permanenten Machtkampf wurde. Deshalb, so der Rat, sollten Eltern gegenüber ihren Kindern als vereinte Front auftreten. Allerdings war es in diesem System den Kindern nicht erlaubt, diesen «Kampf» zu gewinnen.

Inzwischen sind wir klüger und beginnen zu verstehen, dass lediglich ein Aspekt Sinn macht – nämlich die elterliche Führung. Wenn Kindern die Führung überlassen wird, können sie nicht gedeihen und sich nicht zu gesunden Menschen entwickeln.

Die Meinung, dass Kinder Eltern brauchen, die sich in allem einig sind, ist veraltet. Es ist eine Tatsache, dass Menschen verschieden sind. Auch Eltern haben unterschiedliche Geschichten, eigene Persönlichkeiten und in den meisten Fällen ein unterschiedliches Geschlecht.
 
Sie können sich grundsätzlich einig sein. Doch im täglichen Umgang mitei­nander zeigen sich ihre Eigenheiten. Das sollte auch so sein. Die einzige Alternative dazu wäre, einen «Chef» zu ernennen. Was zur Folge hätte, dass die andere Person zum Assistenten, zum Hausmädchen oder Bediensteten degradiert wird. So ist Gleichheit ­zwischen den Eltern nicht möglich.

Verschiedenheit verunsichert Kinder nicht

Kinder können auf wunderbare ­Weise mit der Verschiedenheit ihrer Eltern umgehen. Sie fühlen sich dadurch weder unsicher noch verwirrt, wie wir früher immer gedacht haben. Allerdings sollten sich Eltern darin einig sein, dass es in Ordnung ist, unterschiedlich zu sein.

Wenn Kindern die Führung überlassen wird, können sie nicht gedeihen und sich nicht zu gesunden Menschen entwickeln.

Es ist eine interessante Erfahrung für uns Erwachsene, dass wir automatisch viele Dinge von unseren Eltern übernehmen, die wir nicht wollten. Wir alle machen das bis zu einem gewissen Grad, auch wenn wir versuchen, es zu vermeiden. Erwach­sene sollten sich deswegen nicht gegenseitig beschuldigen oder sich schuldig fühlen. Allerdings sollten wir dieses Verhalten reflektieren und versuchen, damit aufzuhören.

Wenn die individuellen Unterschiede zwischen den Eltern zu Streit und Konflikten führen, ist das eine gute Gelegenheit, sich über ­seine eigene Kindheit Gedanken zu machen und diese mit dem Partner zu teilen. So lassen sich unfrucht­bare Diskussionen über die richtige Art, Vater oder Mutter zu sein, vermeiden. Stattdessen können Sie herausfinden, welche Art von Eltern Sie sind – und warum das so ist.

Auseinandersetzungen über ­Einstellungen sind schädlich

Bei Gesprächen über Erziehungs­fragen sollte es nicht darum gehen, wer letztlich gewinnt, sondern welche Bedingungen die besten für die Kinder sind. Kinder profitieren davon, eine Mutter und einen Vater zu haben, die sich in ihrer Eltern­rolle wohlfühlen, die sich gegenseitig – und ihre Unterschiede – wertschätzen.
Es ist ein grosser Unterschied, ob Eltern verschieden sind oder andere Einstellungen haben. Andere Einstellungen zu haben bedeutet, sich bei Werten, Prinzipien oder Ideologien zu widersprechen.

Regelmässige Machtkämpfe und Auseinandersetzungen zwischen Eltern erzeugen bei Kindern Angst, Unsicherheit und das Gefühl, schuldig zu sein.

Es geht in den Auseinandersetzungen über Einstellungen meist darum, die Meinung des oder der anderen als «falsch» darzustellen und die eigene als «richtig». Für Kinder ist es nicht gut, mit solchen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern aufzuwachsen.

Kindererziehung ist wie eine bunte Schachtel Süssigkeiten: Da finden sich Stücke unserer eigenen Erziehung, unterschiedliche Theorien und Einstellungen zur Elternschaft in Kombination mit unserer Einzigartigkeit, Verschiedenartigkeit, unseren Werthaltungen, Meinungen und dem Wunsch, die ­Dinge nach unserem Geschmack zu beeinflussen. Deshalb ist es sinnvoll, strukturiert vorzugehen.
Die folgenden Fragen sollten Sie sich stellen: Wofür stehe ich – und ­warum? Wofür steht mein Partner oder meine Partnerin – und warum? Geht es bei den Gesprächen mit dem Partner oder der Partnerin wirklich um Erziehungsfragen und um unsere Kinder – oder geht es eigentlich um etwas anderes? Verhalte ich mich selbst so, wie ich es für richtig halte? Liegt das Problem beim Kind oder bei uns als Eltern? Können wir uns als Eltern darauf einigen, dass wir manches anders machen wollen?

Einigkeit ist nur nützlich, wenn sie dem Wohl des Kindes dient

Kindererziehung ist ein gegenseitiger Lernprozess. Es nützt Eltern nichts, sich in einer Sache einig zu sein, wenn die Kinder darauf negativ reagieren oder deswegen unglücklich, frustriert, aggressiv oder traurig sind. Dann müssen die Eltern ihre gemeinsamen Ansichten noch einmal genauer betrachten, bis die Kinder ihre Fröhlichkeit und Begeisterung wieder haben.

Es ist weder angenehm noch gut für Kinder, wenn ihre Eltern ständig unsicher, ratlos oder starrsinnig sind. Das gibt ihnen das Gefühl, einsam und isoliert zu sein und ignoriert zu werden. Regelmässige Auseinandersetzungen und Machtkämpfe zwischen Eltern erzeugen bei Kindern Unsicherheit, Angst und das Gefühl, schuldig zu sein. In diesem Fall ist es eine gute Idee, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen – dem Wohlbefinden der ganzen Familie zuliebe. So lässt sich vermeiden, dass ernsthaft etwas schiefgeht.


Über Jesper Juul (1948 – 2019):

Nehmen Sie Ihr Kind ernst – begegnen Sie ihm mit Respekt. Kinder brauchen keine Grenzen – sondern Beziehung. Eltern müssen nicht konsequent sein – sondern glaubwürdig.

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer des Beratungsnetzwerks familylab und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») war zweimal verheiratet. Er hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

Jesper Juul starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark.

Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen in Zusammenarbeit mit familylab.ch


Dieser Artikel stammt aus dem «Kindergartenheft 2. Jahr/Frühling» mit dem Titel «Tschüss Chindsgi» und wendet sich an Eltern von Kindergartenkindern der zweiten Klasse. Bestellen Sie jetzt eine Einzelausgabe!
Dieser Artikel stammt aus dem «Kindergartenheft 2. Jahr/Frühling» mit dem Titel «Tschüss Chindsgi» und wendet sich an Eltern von Kindergartenkindern der zweiten Klasse. Bestellen Sie jetzt eine Einzelausgabe!

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