«Charakterstärken kann man trainieren» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Charakterstärken kann man trainieren»

Lesedauer: 4 Minuten

Der Persönlichkeitspsychologe Willibald Ruch sagt, welche Faktoren zu einem glücklichen Leben führen – und wie Sie Ihr Kind auf dem Weg dahin unterstützen können.

Interview: Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler
Bild: Samuel Trümpy / 13 Photo

Herr Ruch, was versteht man unter Charakterstärken?

Das sind positiv bewertete Persönlichkeitsmerkmale, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Die Forschungsrichtung der positiven Psychologie fand insgesamt 24 solcher Stärken, darunter Kreativität, Liebe zum Lernen, Tapferkeit, Ausdauer, Freundlichkeit oder Dankbarkeit.

Wichtig ist: Diese Merkmale sind veränderbar und man kann sie trainieren. Jede Gesellschaft hat eigene Rituale, um solche Charakterstärken auszubilden. So schicken wir beispielsweise Kinder in die Schule, um Weisheit und Wissen zu fördern.

Für jede Charakterstärke finden sich Vorbilder, die sie in besonderer Weise verkörpern, wie Mutter Teresa für Bescheidenheit und Grosszügigkeit steht oder Nelson Mandela für Vergebungsbereitschaft und Gnade. Das Wertvolle an Charakterstärken ist, dass sie sowohl das eigene Leben als auch jenes der Mitmenschen bereichern und damit zu einem erfüllten Leben beitragen.

Willibald Ruch ist Professor für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik an der Universität Zürich. Seit 20 Jahren ist der gebürtige Österreicher dem Glück beruflich auf der Spur: Schwerpunktmässig erforscht er Humor und Heiterkeit sowie die Bedeutsamkeit von Charakterstärken und Tugenden. Er ist Gründungsmitglied der Internationalen Vereinigung für Positive Psychologie (IPPA) und Mitherausgeber mehrerer Fachzeitschriften und Bücher. Willibald Ruch lebt und arbeitet in Zürich.

Wie nutzt man Charakterstärken, um zufriedener zu werden?

Jeder Mensch hat sogenannte Signaturstärken: Charakterstärken, die bei ihm besonders ausgeprägt sind, die ihm natürlich von der Hand gehen und mit denen er sich identifiziert. Wenn jemand bei uns ein Coaching besucht, weil es ihm schlecht geht, finden wir zuerst mittels eines Fragebogens heraus, wo seine grössten Charakterstärken liegen.

Zwischenmenschliche Tugenden sind den meisten Eltern wichtiger als Intelligenz, Schulerfolg oder gutes Aussehen.

Als Nächstes geben wir der Person die Aufgabe, ihre Signaturstärken auf verschiedene Arten im Alltag auszuleben. So kann man in eine Aufwärtsspirale kommen. Wenn man sein Leben um die eigenen Stärken herum aufbaut, geht es einem automatisch besser. Man ist zum Beispiel bei der Arbeit zufriedener und fühlt eher eine innere Berufung, wenn man in seinem Beruf mindestens vier der eigenen Charakterstärken regelmässig einsetzen kann.

Wer wissen möchte, welche Charakterstärken bei ihm besonders ausgeprägt sind, kann dazu den kostenlosen Fragebogen auf der Webseite der Universität Zürich nutzen.

Welche Charakterstärken schätzen Eltern bei ihren Kindern besonders?

In einer Studie mit über 500 befragten Müttern und Vätern lag Freundlichkeit auf der Wunschliste ganz oben, gefolgt von Ehrlichkeit, sozialer Kompetenz, Bindungsfähigkeit und Teamwork. Das zeigt: Tugenden im zwischenmenschlichen Bereich sind den Eltern besonders wichtig. Diese Stärken waren den meisten Eltern auch wichtiger als Intelligenz, Schulerfolg oder gutes Aussehen.

Wie kann man diese Stärken in der Familie kultivieren?

Eine gute Übung für mehr Lebenszufriedenheit ist, die Stärken, die mich auszeichnen, auf andere Art und Weise einzusetzen. Wenn ich etwa eine grosse Neugier und Liebe zum Lernen habe, könnte ich in einer Bibliothek oder Buchhandlung absichtlich in eine andere Abteilung gehen und dort gezielt nach einem Buch zu einem Bereich suchen, mit dem ich mich noch nie befasst habe, der aber meine Neugier und Liebe zum Lernen weckt.

Oder ich verändere meinen gewohnten Heimweg und entdecke die Umgebung. In solchen Momenten erleben Menschen die Kraft, die von den eigenen Stärken ausgeht, viel stärker. Wichtig ist bei dieser Übung die Kombination aus «neu» und «gerne tun». Als Familie fragt man sich am besten: Wie können wir unsere gemeinsame Zeit so nutzen, dass die Stärken aller zum Tragen kommen? Also etwa bewusst ein Wochenende oder die Ferien so planen, dass möglichst viele Stärken berücksichtigt werden.

Sollte man sich demnach vor allem auf die Signaturstärken konzentrieren?

Nicht unbedingt. Wir haben dazu eine Studie gemacht und herausgefunden: Menschen, denen es gerade nicht so gut geht oder die insgesamt nur wenige stark ausgeprägte Charakterstärken haben, konzentrieren sich am besten darauf, diese vermehrt einzusetzen.

Als Lehrer würde ich darauf achten, dass möglichst viele verschiedene Stärken im Unterricht zum Tragen kommen.

Wenn ich hingegen bereits viele Stärken habe, bringt es mir mehr, mich noch weiter in die Breite zu entwickeln, indem ich neue Stärken aufbaue, die bis jetzt noch nicht so präsent sind.

Wäre das Charakterstärkenkonzept auch für Schulen eine Bereicherung?

Definitiv! Wie ich gehört habe, ist das Charakterstärkenkonzept auf Initiative einiger Lehrkräfte auch schon im Lehrplan mancher Schulen verankert worden. Ich denke, das ist wichtig. Wir haben in unseren Studien gesehen, dass es Stärken gibt, die das Wohlbefinden in der Schule und den Lernerfolg vorherbestimmen.

Dazu gehören Ausdauer, Liebe zum Lernen, Neugier und Selbstregulation, das heisst, auf die eigenen Gefühle Einfluss nehmen und sein Handeln an langfristigen Zielen ausrichten zu können. All diese Stärken haben aber nur wenige Schülerinnen und Schüler. Leider ist die Schule oft so ausgerichtet, dass andere Tugenden weniger zum Tragen kommen.

Wie meinen Sie das?

Nehmen wir das Beispiel des «Klassenclowns»: Wir haben in unseren Studien festgestellt, dass diese Kinder Humor als Signaturstärke haben und auch ihr Führungsvermögen oft hoch ausgeprägt ist. Aber nicht jeder mit Humor wird zum Klassenclown, insbesondere nicht, wenn Stärken der Mässigung – Selbstregulation, Umsicht – gegeben sind.

Ich nehme an, dass Kinder mit Humor als Signaturstärke hauptsächlich dann zum Klassenclown werden, wenn sie ihre Stärken im Unterricht nicht einsetzen können und sich in der Schule nicht zu Hause fühlen. Als Lehrer würde ich darauf achten, dass möglichst viele verschiedene Stärken im Unterricht zum Tragen kommen.

Es kostet kaum Zeit, auch mal zu fragen, wer diese Woche etwas Lustiges erlebt hat, oder dem humorvollen Kind auf andere Weise eine Bühne zu geben. Das Kind ist dadurch besser integriert, weil das, was es ausmacht, auch in der Schule seinen Platz hat. Je häufiger man Stärken im Klassenverband einsetzen kann, desto höher ist die Schulzufriedenheit. Das gilt auch für Lehrkräfte.

Welche Rolle spielt denn die Familiensituation bei der Entwicklung von Charakterstärken?

Neben den Eltern sind auch die Geschwister wichtig. Untersuchungen zeigen, dass Kinder, die mindestens ein Geschwister haben, im Vergleich zu Einzelkindern höhere Werte in den Stärken Freundlichkeit, Teamwork, Spiritualität, Humor und Vergebungsbereitschaft erreichen. Mit Ausnahme von Spiritualität sind dies alles eindeutig zwischenmenschliche Stärken.

Auch die Position innerhalb der Familie scheint bedeutsam: Einzelkinder und Erstgeborene zeigen eine höhere Liebe zum Lernen, mehr Neugier, Vorsicht und Urteilsvermögen, also alles eher geistige Stärken. Die «Nesthäkchen» wiederum zeigen im Vergleich dazu mehr Humor. Die Unterschiede sind jedoch nicht allzu gross.

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund
sind Psychologen und leiten die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Die beiden eint der Wunsch, dass Kindergarten und Schule Orte sind, wo sich Kinder, Eltern und Lehrpersonen wohl fühlen und voneinander lernen können.

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