«Bin ich mutig genug, mich gängigen Erwartungen zu widersetzen?»

Bilder: Ruben Hollinger / 13 Photo
Bruna Casagrande, 39, lebt mit ihrem Mann Yvo, 38, und den Kindern Camille, 6, und Claude, 3, in Bern. Die Restauratorin stellt fest, dass ihre Intuition in Erziehungsfragen nicht immer der beste Ratgeber ist. Unter Zeitdruck kommen alte Muster hoch, die sie und ihr Mann, ein Kommunikationsdesigner, eigentlich ablehnen.
«Stress und gesellschaftliche Erwartungen sind Themen, die mich stark beschäftigen, seit ich Mutter bin. Nach der Geburt meines zweiten Kindes Claude hatte ich eine Erschöpfungsdepression. In der Therapie habe ich erkannt, welche Situationen in mir Verhaltensmuster hervorrufen, die ich eigentlich ablehne.
Ein typischer Elternmoment: Die Zeit drängt, der Job ruft, ich muss mit meinen Kindern dringend aufbrechen. Aber meine Kleine will partout ihre Jacke nicht anziehen. Was tue ich also? Ich sage: ‹Du möchtest einen Kaugummi? Dann zieh dich jetzt sofort an.›
Natürlich funktioniert das! Mir gefällt diese Herangehensweise aber nicht. Ich benutze ihren Wunsch, um sie zur Kooperation zu bewegen, ohne dass sie versteht, warum sie das jetzt tun soll. Und beim nächsten Mal macht sie nur mit, wenn sie wieder einen Kaugummi bekommt.
Das andere Extrem, die Bestrafung oder die Androhung von Strafe, empfinde ich als noch fataler. Mir und meinem Mann war schon immer klar, dass wir unsere Kinder niemals körperlich züchtigen würden. Aber auch die Androhungen von Strafen lösen bei mir einen grossen inneren Widerwillen aus.
Ich möchte nicht sagen: ‹Geh in dein Zimmer und komm erst wieder raus, wenn du deinen Fehler erkannt hast.› Ich will nicht signalisieren: ‹Wir können erst wieder reden, wenn du kapiert hast, dass ich Recht habe.› Ich glaube nicht, dass dieser Kommunikationsabbruch meinem Kind klarmacht, was mich als Mutter ärgert.
Ein Timeout nehmen
Andererseits bin ich manchmal auch zu wütend, um ruhig zu bleiben. Meine Lösung: Ich erlaube mir selbst in solchen Momenten ein Timeout und sage etwa: ‹Kinder, ich bin gerade so müde, ich bin so genervt, ich gehe mal kurz raus. Gebt mir etwas Zeit.› Danach komme ich wieder und rede mit ihnen.
Es gibt sicher Menschen in meinem Umfeld, die das nicht sinnvoll finden. Das Prinzip von Belohnen und Bestrafen ist gesellschaftlich tief verankert. Wer das als Eltern nicht hinterfragt, übernimmt es intuitiv.
Mein Mann und ich führen dazu viele Gespräche. Wie sehr wir unsere Ideale in der Praxis umsetzen können, ist auch eine Frage der Übung. Es dauert, gelernte Muster abzulegen. Es erfordert auch Mut, sich Erwartungen zu widersetzen und Kinder nicht in bestimmte Verhaltensweisen zu drängen.
Ich mache bei meinem Grossen bereits die Erfahrung, dass sich das lohnt. Camille sagt manchmal etwas wie ‹Jetzt kann ich gerade nicht mehr denken. Es ist mir zu viel›. Dann weiss ich, dass er einen Moment Zeit braucht und ich ihm helfen muss, sich zu beruhigen. Danach finden wir oft eine Lösung für unseren Konflikt.»
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