Krieg: Wie kommen wir aus der Sorgenspirale raus?
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Wie kommen wir aus der Sorgenspirale raus?

Lesedauer: 5 Minuten

Auf die Corona-Krise folgt der Krieg in der Ukraine. Was macht das mit uns als Eltern? Was mit unseren Kindern? Fritz+Fränzi-Redaktorin Maria Ryser zeigt auf, wie sie und ihre Familie mit dem konstanten Krisenmodus umgehen.

Text: Maria Ryser
Bild: Rawpixel

Mein Handy piepste in den letzten Wochen permanent. Auf allen möglichen Kanälen stürmten Bilder, Memes, Videos, Aufrufe zu Demonstrationen, Spendenaktionen oder Schweigeminuten rund um den Krieg in der Ukraine auf mich ein. Die Wiederholungsrate gleicher Inhalte war dabei riesig. Irritiert schaute ich dem erregten Treiben in den sozialen Medien eine Weile zu. 

Auf einen Schlag war Corona kein Thema mehr. Die Anzahl an Neuinfektionen oder an Covid verstorbener Menschen, die uns fast zwei Jahre lang täglich beschäftigten, wichen der Anzahl an Kriegstoten in der Ukraine.

Ja, dieser Krieg ist furchtbar. Ja, die jüngsten Nachrichten gehen unter die Haut. Die Ukraine ist nicht so weit weg wie Afghanistan, Äthiopien oder Nigeria. Dieser Krieg findet auf europäischem Boden statt. Das lässt sich nicht so leicht verdrängen. 

Ich kann die Welt nur verändern, indem ich mich verändere. Ist das zu egozentrisch?

Was macht das mit uns als Eltern? Was macht es mit unseren Kindern? Was macht es mit uns, wenn wir von einem Krisenmodus in den nächsten wechseln? Und wie können wir aus der mittlerweile mehrjährigen Sorgenspirale der jüngsten Ereignisse wieder heraustreten? 

Die Vorstellung, unsere Kinder auf dem Nährboden permanenter Sorgen und Ängste grosszuziehen, löst in mir ein mulmiges Gefühl aus.

Leiser werden

Ich bin Mutter von drei Kindern: Einer erwachsenen Tochter, 21, die vor einem Jahr ausgezogen ist und in einer Studentinnen-WG lebt, einem 17-jährigen Sohn im zweiten Lehrjahr und einem zehnjähriger Primarschüler. 

Und: Ich bin grundsätzlich kein ängstlicher Mensch. Als meine Tochter noch im Krabbelalter war, lief ich unbekümmert im Treppenhaus voraus in die damalige Dreizimmerwohnung im dritten Stock und versorgte die Einkäufe, während sie in ihrem Tempo die Treppen bewältigte und zehn Minuten später strahlend zur Türe hereinkrabbelte. 

Vielleicht lag es auch an meinem Alter: Ich war damals erst 24 Jahre alt. Zehn Jahre später, bei unserem Nesthäkchen, machte ich mir schon deutlich mehr Gedanken. 

Das sagen meine Kinder zum Krieg in der Ukraine:
«Putin ist wie Darth Sidius»

Wer einen Krieg anfängt, ist böse. Putin ist wie Darth Vader, nein, wie Darth Sidius, der ist noch böser. Die Atomwaffen sind wie der Todesstern: Am Anfang hat man Angst, doch dann kommt alles gut.

Der jüngere Sohn, 10, Primarschüler

Die Corona-Krise hat trotzdem ihre Spuren hinterlassen. Und vieles auf den Kopf gestellt. Etwa die Spaltung der Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte. Die vielen harschen Worte, die auf beiden Seiten fielen. Kein Smalltalk ohne Corona. Meist im Betroffenheitsmodus. 

Zu Beginn habe ich munter mitdiskutiert, mich echauffiert, wurde laut und als die Fronten sich mehr und mehr zementierten irgendwann immer leiser. Es machte mich müde. Ich versuchte mich im Zuhören, im Herausfiltern von Zwischentönen. Eine gute Übung. 

Krieg live auf TikTok

Und nun der Krieg in der Ukraine. Neue Flüchtlingsströme. Erneut ein Tsunami emotionalen Aufruhrs, sei es in den klassischen wie den sozialen Medien. Diesmal macht es mich von Beginn weg müde.

Wer hilft hier wem? Helfen wir, um der Hilfe Willen? Geht es ums Eindämmen der eigenen Unruhe? Um Ablenkung, Gewissensbisse oder moralische Integrität? Um Mitgefühl oder Sensationseuphorie? 

Der Krieg lässt sich live auf dem Videoportal TikTok verfolgen. Da gruselts mir. Und – muss ich mich schlecht fühlen, wenn ich nicht speziell für die Ukraine sammeln oder spenden mag? Médecins sans Frontières spende ich seit Jahren. Auch jetzt wieder. Reicht das oder ist es zu wenig?

Das sagen meine Kinder zum Krieg in der Ukraine:
«Ich fühle mich machtlos»

Ich fühle mich machtlos, da ich nicht viel am Leid der vom Krieg betroffenen Menschen ändern kann. Angst habe ich bis jetzt keine. Meinen Medienkonsum schränke ich aber bewusst ein. Täglich Kriegsbilder zu konsumieren, finde ich problematisch. Das bedeutet nicht, dass ich nicht hinsehen mag. Ich tue, was für mich möglich ist: demonstrieren, Kleider spenden oder abends eine Kerze für die Kriegsopfer anzünden.

Die Tochter, 21, Studentin

Mein Cousin und seine Frau, die vor zwei Monaten ihr zweites Kind bekommen haben, haben völlig unkompliziert zwei ukrainische Flüchtlinge, 21-jährige Studentinnen, bei sich aufgenommen. Geht das mit einem Säugling im Haus oder ist es nach ein paar Wochen doch zu viel? Ich bewundere ihren Mut und ihr Engagement. Könnte ich das? Ich weiss es nicht.

Ich richte meinen Blick weiter nach innen. Auf die eigenen emotionalen Schlachtfelder. Was triggert mich und warum? Und wie kann ich es ändern oder besser gesagt auflösen? Ich kann die Welt nur verändern, indem ich mich verändere. Fang zuerst bei dir selbst an. Kehr den Dreck vor der eigenen Haustüre, sage ich mir. Oder ist das zu kurz gedacht, zu egozentrisch?

Mitfühlen, nicht mitleiden

Ein weiterer Gedanke: «Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es», schrieb der deutsche Schriftsteller Erich Kästner. Was aber bedeutet handeln oder eben Gutes tun für mich? Vielleicht lässt es sich am ehesten mit Wünschen ausdrücken. Ich wünsche mir weiterhin wach und herzlich zu bleiben. Mitfühlen, nicht mitleiden. 

Ich grüsse meine Nachbarn, halte einen Schwatz mit dem «Surprise»-Verkäufer, hole der alten Dame die Schachtel ganz oben vom Regal runter, mache meinen Platz im Tram frei für eine schwangere Frau, sage der Kinderbande, die in den Bus stürmen will: «Stop. Erst lasst ihr die Menschen aussteigen, dann könnt ihr in Ruhe einsteigen.» 

Ich lade Herrn Hunziker, einen Obdachlosen, der regelmässig seine selbstgezeichneten Kärtchen an unserer Türe verkauft, auf einen Kaffee ein. Alltägliche Kleinigkeiten. Sind sie zu klein oder stärken sie vielleicht doch das grosse Miteinander?

Grenzen setzen

Und ich setze Grenzen. Etwa beim Medienkonsum, den ich stark reduziere. Reissende News-Schlagzeilen und die ausufernde Bilderflut ertrage ich immer schlechter. Ich sattle um auf Radio. Höre wieder «Echo der Zeit» und lausche interessiert den sorgfältig zubereiteten Inhalten. Oder ich lese einmal die Woche «Die Zeit», was wirklich Zeit braucht.

Ich ziehe auch bei Gruppenchats eine rote Linie. «Ich verstehe eure Betroffenheit und Ohnmacht in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen», schrieb ich kürzlich in einen von mir initiierten Chat zu spezifischen Frauenthemen, «doch das ist nicht die richtige Plattform dafür. Danke für euer Verständnis.» 

Es kam gut an. Wir müssen nicht alles auf allen Plattformen teilen. Sich abgrenzen und fokussieren lernen kann helfen, den eigenen Handlungsspielraum besser zu erkennen.

Das sagen meine Kinder zum Krieg in der Ukraine:
«Wir hocken in einer Sicherheitsbubble»

Ich habe Mühe damit, dass wir in der Schweiz in so einer Sicherheitsbubble hocken. Was wissen wir schon vom Krieg? Zum Glück nichts! Die Vorstellung, dass die Realität eines 17-jährigen in der Ukraine so krass anders ist als meine hier in der sicheren Schweiz, finde ich echt schwierig. Die Welt ist brutal ungerecht. Mich beschäftigt daher vor allem: Wie können wir das ändern?

Der ältere Sohn, 17, im zweiten Lehrjahr

Ich erinnere mich daran, dass wir als Konsumentinnen und Konsumenten auch ein Wörtchen mitreden können. Also Gemüse und Früchte nur regional und saisonal kaufen, Plastikgebrauch und Heizung runterfahren, Öko-Waschmittel verwenden, Kleider tauschen anstatt kaufen, weniger Auto fahren und fliegen oder ganz darauf verzichten – die Liste liesse sich beliebig verlängern.

Von den Kindern lernen

Kraft, um zu handeln und jeden Tag etwas Licht in die Welt zu tragen, schenken mir auch meine drei Kinder. Vom Alter her «luggets» langsam bei mir und ich gewinne mehr und mehr Raum, um ihre Stärken und ihre eigene innere Schönheit wahrzunehmen und zu schätzen.

Die Frage ist weniger, was wir unseren Kindern mitgeben, sondern viel mehr, was unsere Kinder uns lehren.

Je nach Altersstufe gehen sie unterschiedlich mit dem Thema Krieg um (siehe blaue Boxen). Meine Tochter steht offen zu ihrer Unsicherheit. Sie engagiert sich vielseitig und wirkt so der eigenen Ohnmacht entgegen. Der ältere Sohn ist Grossmeister der Empathie und geht der Frage nach Gerechtigkeit nach. Unser Nesthäckchen zieht für ihn logische Vergleiche zur Welt von Star Wars, von der er ein grosser Fan ist. 

Meine Kinder haben ihre Aufgaben, Freunde und Hobbys. Sie sind wach und herzlich. Vielleicht ist es – wie so oft mit Kindern – einfach umgekehrt, denke ich: Die Frage ist weniger, was wir unseren Kindern mitgeben, sondern viel mehr, was unsere Kinder uns lehren.

Maria Ryser

Maria Ryser
liebt grosse und kleine Kinder, zyklisch leben, Rilke, reinen Kakao, Klangreisen und Kreta. Die gebürtige Bündnerin arbeitet als stv. Leiterin auf der Onlineredaktion und ist Mutter zweier erwachsener Kinder und eines Primarschülers.

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