Familie in verschiedenen Zeitzonen, wie geht das? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Familie in verschiedenen Zeitzonen, wie geht das?

Lesedauer: 6 Minuten

In unserer Serie «Wir fragen uns …» stellen wir von Fritz+Fränzi uns gegenseitig Fragen aus dem grossen Familienuniversum. Auf die Frage von Dominique Binder aus der Verlagsadministration antwortet der Geschäftsführer der Stiftung Elternsein, Thomas Schlickenrieder. 

«Lieber Thomas, dein Sohn geht in den USA aufs College. Wie bist du mit der Trennung umgegangen?»

Dominique Binder, Verlagsassistentin

Liebe Dominique, ich wollte darüber nie schreiben, aber es ist für mich die Chance, die Dinge im Kopf zu ordnen. Denn so einfach ist die Sache nicht. Ich gestehe: Es ist ein Höllenritt.

Unser Sohn studiert seit August 2018 an einer angesehenen Universität in den USA. Er betreibt dort Leistungssport und ist Mitglied im College-Team in der Division A, der höchsten College-League in den USA. Es ist sein Lebenstraum.

Die fünf Jahre davor studierte und trainierte er im Sportgymnasium Davos und verbrachte in aller Regel die Wochenenden im Elternhaus. Nun, dachte ich, er sei ja jetzt schon die meiste Zeit weg, dann kommt da keine grosse Änderung auf uns zu. 

In der Familie war die USA-Option bereits seit längerer Zeit ein Thema. Herausfordernde, sportliche Qualifikationen, die Prüfungen und die ganzen administrativen Hürden und Vorbereitungen beschäftigten uns schon ein bis zwei Jahre vor seiner Abreise. So hatten wir alle Zeit der Welt, um uns vorzubereiten.

An den Tag, als die Zusage aus den USA eintraf, erinnere ich mich gut. Ich konnte es kaum glauben, ich war überwältigt. Es waren unbeschreibliche Momente, unseren Sohn zu beobachten. Für ihn ging in jenen Sekunden das Tor zur Welt auf, er war fest entschlossen. Er hat viele Freunde hier, sein ganzes sportliches Umfeld, er ist fest verwurzelt. Und trotzdem waren seine absolute Entschlossenheit, seine Genugtuung, seine Aufbruchstimmung zu spüren. Das hat mich gleichermassen berührt wie beeindruckt. Wie kann ein 19-jähriger Mensch so klar sein, so fokussiert? Und ja, natürlich war ich auch stolz.

Der Tag kam. Ich begleitete unseren Sohn, um ihn während der ersten Tage am neuen Wohnort zu unterstützen, es gab viel zu organisieren. Beim Abschied in Zürich-Kloten bewunderte ich meine Frau, wie sie beherrscht und mit glänzenden Augen Abschied nahm. Ich wusste dort schon, dass mir das nicht gelingen würde.

In der Universität in der Nähe von Washington, seiner Heimat für die nächsten vier Jahre, bezogen wir Quartier und erledigten, was es noch zu erledigen gab. Am nächsten Tag lernten wir seine Zimmer- und seine Teamkollegen kennen.

Dann kam der Moment. Es regnete. Abschied zu nehmen von meinem Sohn war der traurigste Moment in meinem Leben. Ich kann mit Worten gar nicht fassen, wie tief es mich traf, unseren Sohn dort zurückzulassen. War meine Frau einverstanden, wenn ich ihn nun wirklich zurücklasse? Ist es zu verantworten? Sehe ich ihn wieder? Ich hatte die Situation völlig falsch eingeschätzt, nicht zu vergleichen mit Davos, das wurde mir jetzt bewusst. Wir nahmen Abschied.

Rational ist nicht zu erklären, wieso ich als Vater Tränen vergoss. Meine Frau und ich haben ihm einen Lebenstraum erfüllt, er war absolut einverstanden, entschlossen, glücklich. Die Atmosphäre in der Universität unbeschreiblich positiv, viel Energie. 

Es war die Klarheit, die mich mit voller Wucht erfasste, dass sich genau in jenem Moment etwas unwiderruflich und endgültig ändern würde. Von einem Moment auf den anderen. Es wühlt einen auf. 

Die anschliessende Autofahrt von der Universität weg in Richtung Norden war hart. Ich tat etwas, wogegen sich mein Innerstes sträubte. Der Verstand übernahm und das Herz blutete. Mit jeder Meile wurde mir bewusster, dass es nun endgültig war.

Die folgenden Tage verbrachte ich in Neuengland, Abschied auf Raten. Falls er noch etwas brauchen sollte, redete ich mir ein. Selbstverständlich benötigte er nichts. Ich verbrachte ein paar meditative und einsame, aber wunderschöne Tage an der Ostküste der USA, bevor ich dann endgültig abreiste. 

Unser Sohn, wie auch unsere Tochter, ist ein überaus liebenswürdiger Mensch. Dank Skype haben wir Nähe, wir pflegen regelmässig Kontakt. Es geht ihm sportlich enorm gut, schulisch läuft es bis jetzt prima. Er hat eine neue Freundin gefunden, sie ist Mitglied im US-Nationalteam. Er ist assimiliert und glücklich.

Seit unser Sohn in den USA wohnt, wird mir die grundlegende oder fundamentale Bedeutung von Eltern sein in seiner Dimension erst richtig klar.

Dazu ein Zitat von J. W. Goethe:

«Es ist nicht genug zu wissen – man muss auch anwenden. 
Es ist nicht genug zu wollen – man muss auch tun.» 

Die Aufgabe der Eltern besteht darin, ihre Kinder flügge zu machen. Sie je nach Lebensumständen und Voraussetzungen auf ein selbständiges Leben vorzubereiten und sie dann zu ermutigen, abzuheben, zu fliegen. Loslassen sagt man dem. 
Ich war stets ein überbesorgter Vater. Wie bitte, der Geschäftsführer der Stiftung Elternsein? Ja. Zum Leidwesen unserer Kinder. Und ich habe nicht viel dazugelernt, weshalb mir der Abschied so schwer viel.

Als ich Abschied nahm im vergangenen August habe ich mir gedacht, vielleicht sehe ich ihn nie mehr, vielleicht passiert ihm etwas. Wenn ich schlafe, ist er mit seinem Team irgendwo unterwegs. Ich habe keine Ahnung, was er im Augenblick erlebt, ich kann ihm nicht helfen, ihm nicht beistehen. Sind wir von allen guten Geistern verlassen? Inzwischen schlafe ich gut. Meistens.

Mittlerweile haben wir unsere Rituale. Wir skypen, plaudern, ratschen, lachen, drücken Daumen. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit schicken wir uns Meldungen und Bilder. Nicht auszudenken, wenn wir uns via Briefmarken austauschen müssten.

Manchmal schäme ich mich. Ich habe im Moment unseres Abschieds im vergangenen August, ein Anflug von dem erlebt, was Eltern durchmachen, wenn sie ein Kind für immer verlieren. Ich veranstalte ein Riesentheater, andere Menschen haben tatsächlich Grund, Tränen zu vergiessen.

Wenn ich heute an unseren Sohn denke, und das tue ich täglich, so erfüllt es mich mit Freude, weil ich weiss, dass er glücklich ist. Damit kann ich meinen Trennungsschmerz auf ein erträgliches Mass reduzieren. 

Das Abschiednehmen in zehn Phasen: 

Wie ich den Abschied in zehn Phasen erlebt habe:
  1. In den ersten Wochen oder Monaten waren der Trennungsschmerz und die Angst um unseren Sohn allgegenwärtig. Die Ablösung der Kinder vom Elternhaus erfolgt in aller Regel sukzessive, oft bleiben Kinder und Eltern auf Tuchfühlung in Bezug auf die räumliche Distanz. Geht es von einem Moment auf den anderen, und ist die räumliche Distanz zudem von ozeanischer Weite, ist auch der Schock für die Daheimgebliebenen grösser. 
  2. Nachdem sich meine Befürchtungen und die unbegründete Angst nicht erfüllt haben, habe ich mich mehr und mehr beruhigt. Dabei wurden Erinnerungen wach, als unser neugeborener Sohn mit meiner Gattin nach Hause kam und wir hilflos und panisch um unser Baby gewuselt sind. Die erste Nacht zu Hause benahm ich mich wahrscheinlich wie der grösste Idiot. 20 Jahre später tue ich es erneut. Nichts gelernt.
  3. Die Zuversicht, dass er die kommende Nacht womöglich ebenfalls überleben wird, stimmt mich so hoffnungsvoll, dass ich froh bin, dass er in Amerika ist und dort seinen Traum verwirklichen kann. 
  4. Es normalisiert sich, insbesondere auch der digitalen Medien wegen, welche die räumliche Distanz entscheidend verkürzen. Wir freuen uns mit ihm über seine Erfolge und seine Erlebnisse.
  5. Ich denke sehr oft an Eltern, die ein Kind verloren haben. Dass ihr Kind nicht mehr nach Hause kommt. Oft fliessen Tränen in solchen Momenten. 
  6. Ich bin dankbar, stolz. Die gute Situation unseres Sohns bereitet mir Freude.
  7. Trotz allem, ganz entspannt bin ich nicht, das muss ich noch lernen.
  8. Wir achten darauf, dass unsere Tochter nicht überkompensieren muss. Unsere Tochter ist unsicher, ob sie den USA-Aufenthalt ihres Bruders gut finden soll, das wechselt auch ab. Sie hat nun die ganze Aufmerksamkeit ihrer Eltern für sich, und das ist manchmal wünschenswert, manchmal lästig. Beim gemeinsamen Essen fehlt er ihr jedoch schon, und beim Mario Kart fahren ist auch niemand da, der ihr ernsthaft Konkurrenz macht.
  9. Unsere beiden alten Katzen liegen sehr oft im Zimmer unseres Sohns. Offenbar vermissen sie ihn ebenfalls und kompensieren seine Abwesenheit durch die Anwesenheit seines Geruchs (dabei liegen keine alten Socken mehr herum).
  10. Es sind Semesterferien. Unser Sohn ist nach Hause gekommen und wird die kommenden drei Monate in der Schweiz verbringen. Im Sommer möchte er uns seine neue Freundin vorstellen, die uns besuchen kommt. 
Ich bin dankbar. 

Die nächste Frage geht an Claudia Landolt, leitende Autorin bei Fritz+Fränzi: 

«Liebe Claudia, du hast zu Hause fünf kleine und grosse Männer mit immer knurrenden Mägen. Wie kommst du um die tägliche Pasta-Falle herum?» 

Die Antwort ist mittlerweile erschienen:

Was kochen für vier gefrässige Jungs? Die Antwort von Claudia Landolt.  

Thomas Schlickenrieder ist Geschäftsführer der Stiftung Elternsein, die das Magazin Fritz+Fränzi herausgibt. Er hat zwei erwachsene Kinder, einen Sohn, 20, und eine Tochter, 18 Jahre alt. Er wohnt mit seiner Familie in Stäfa.
Thomas Schlickenrieder ist Geschäftsführer der Stiftung Elternsein, die das Magazin Fritz+Fränzi herausgibt. Er hat zwei erwachsene Kinder, einen Sohn, 20, und eine Tochter, 18 Jahre alt. Er wohnt mit seiner Familie in Stäfa.


Bisher erschienen in der Serie «Wir fragen uns …»: