Das Editorial im März - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Das Editorial im März

Lesedauer: 1 Minuten
Liebe Leserin, lieber Leser

Neulich erzählte mir eine Primarlehrerin, sie bringe im Herbst vier Schüler ins Gymi. Bemerkenswert sei das, weil sie in ihrer Klasse 17 Jugendliche mit Migrationshintergrund unterrichte. Ob das anstrengend sei, wollte ich wissen. Nun, richtig anstrengend sei der Schweizer Junge mit ADHS, der sich selbst den Mund zuklebe, damit er im Unterricht nicht störe, sagte die Lehrerin. Aber die wahre Herausforderung sei das Mädchen mit Downsyndrom. Ihm gerecht zu werden, bringe sie oft zur Verzweiflung. «Das Mädchen ist auf dem Stand einer Fünfjährigen, möchte, dass man ihm den ‹Schellen-Ursli› vorliest, während ich mit der Klasse englische Vokabeln übe.» Trotzdem liebe sie ihre Schüler, jeden einzelnen. «Ich würde sofort wieder Lehrerin werden», sagte sie. 

Ich erzähle Ihnen dieses beeindruckende Beispiel von gelebter Inklusion – also dem gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Handicap –, weil wir uns in der Redaktion seit Wochen mit diesem Thema beschäftigen. Welche Erfahrungen machen Lehrpersonen und Eltern in inklusiven Schulen? Wie kann die Integration von behinderten Menschen in die Regelschule gelingen? Und wo liegen die Grenzen? Tauchen Sie ein in die Welt der 13-jährigen Sophie, ein Mädchen mit Downsyndrom, das in Basel die Sekundarschule besucht. Sophies Welt. 

Immer wenn Herr Müller den schwarzen Knopf drückte, wussten wir: Es gibt Nacktes zu sehen. Herr Müller war unser Zeichenlehrer. Und dazu bestimmt, uns Sekschüler aufzuklären. Immer freitags drückte Herr Müller den schwarzen Knopf. Sekunden später schossen die Rollläden im Zeichenunterrichtszimmer mit Getöse herunter, und Herr Müller warf den Diaprojektor an. Was wir zu sehen bekamen, war faszinierend wie verstörend zugleich: Bilder von Herrn und Frau Müller, füdliblutt am Strand, splitterfasernackt auf der Blumenwiese. Während uns Herr Müller auf die offensichtlichen Unterschiede zwischen einer männlichen und einer weiblichen Brust hinwies, starrten wir angestrengt nach vorn, um uns jedes noch so kleine anatomische Detail einzuprägen. Später, wenn Herr Müller – angezogen, versteht sich – perspektivisches Zeichnen referierte, hatten wir immer etwas Mühe, uns zu konzentrieren. 

«Es ist normal, verschieden zu sein.» 

Richard von Weizsäcker deutscher Politiker (1920–2015)

Das war vor über 40 Jahren. Heute, im Zeitalter von Internet und allzeit verfügbarer Pornografie, geht Sexualkunde anders: Schulen holen sich Hilfe von aussen, junge Medizin-studenten reden mit den Schülern über Selbstbefriedigung, Orgasmus und Analsex – Lehrpersonen haben keinen Zutritt. «Das ist gut so», sagt ein Lehrer in der Reportage meiner Kollegin Bianca Fritz. «Ich bin über 60 und zucke noch jedes Mal zusammen, wenn ein Schüler ‹geil› sagt.» Wenn Schwengel und Mumu Liebe machen. 

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Gefällt Ihnen ein Thema? Was können wir besser machen? Schreiben Sie mir. Ich freue mich, von Ihnen zu lesen. 

Herzlichst, Ihr Nik Niethammer

Bild: Geri Born