Wenn Mütter die Nerven verlieren - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Wenn Mütter die Nerven verlieren

Lesedauer: 1 Minuten
Die Frau hielt sich nicht zurück. Wie eine Gewitterwand ragte sie über ihrem Sohn auf, mitten im Tram, und donnerte auf ihn hinunter, als wäre sie das jüngste Gericht höchstpersönlich. Das Kind schwieg längst schon zerknirscht, aber sie hörte nicht auf, holte stets zu einer neuen Runde aus. Das Kind hatte längst klein beigegeben. Ich hasse es, wenn Frauen so die Nerven verlieren, sich nicht mehr im Griff haben, immer weitermachen, obschon es längst genug ist. Und besonders hasse ich es, wenn ich selber diese Mutter bin.

Ja, manchmal bin ich eine erzieherische Katastrophe. Eine Mutter für ins Lehrbuch der Rabenmütter, eine, die Kinderpsychologen in Ausbildung mit Warnhinweisen versehen und einander weiterreichen. Ich habe nie Hand an eines meiner Kinder gelegt, aber man kann Kinder auch mit Worten misshandeln. Wenn die Wut sich aufbäumt, um sich schlägt und durchbrennt. Die Stimme der Vernunft ist zwar jeweils auch da, rümpft in ihrem geschützten Kabäuschen die Nase und doziert: Das Kind kann doch so nicht begreifen, du bist erwachsen, halte dich im Zaum! – HÖRST DU MIR ÜBERHAUPT ZU? Aber zuhören ist schwierig, wenn man sich an den unkontrollierbaren Gaul seiner Wut klammert, der übers Feld der Erziehung galoppiert und unterwegs alles niedertrampelt.

Die meisten Eltern nicken schuldbewusst, wenn man sie darauf anspricht. Beinahe jeder kennt die Situation. Erstaunlich eigentlich. Kontrollverlust ist ein Thema, das eher ins Kapitel der Teenagerjahre gehört. Im Bestreben, die Begrenzungen der Kindheit aufzubrechen, stellt man allerlei Blödsinn an. Um herauszufinden, wie gross und weit die Welt ist und wie frei man eigentlich wirklich ist, ist es manchmal gut, auf Kontrolle zu verzichten. Und die Lektion, welche Geduld diese Welt angesichts eines rebellierenden Teenagers aufbringen kann, gibt’s als Gratislektion dazu. Aber eigentlich will man ja das Gegenteil und strebt danach, das eigene Leben an die Hand zu nehmen. Man spurt ein, hält sich an die Regeln, übernimmt Verantwortung. Das heisst es, erwachsen zu werden. Und nie muss man erwachsener sein als gegenüber Kindern. Leider bekommt man zu Kindern nicht automatisch mehr Weisheit und Gleichmut mitgeliefert. Sondern meistens Anarchie und Chaos. Vielleicht ist für viele auch der Umstand schwer zu ertragen, wie fundamental Kinder das Leben verändern – der Kontrollverlust findet auf vielen Ebenen statt. Man liebt sie grenzenlos, und manchmal bringen sie einen an die eigenen Grenzen.

Wir sind alle fehlbar, und so bin ich eben manchmal die Mutter im Tram, die Mutter, die ihren Sohn mit Worten traktiert und nicht aufhört. Aber seit ich gelernt habe, dass ich mich danach fühle, als hätte ich mein Kind tatsächlich geschlagen, dieses Würgen in der Kehle, das stundenlang vorhält, ein körperlich empfundener Druck, wenn Schuld, Scham und schlechtes Gewissen auf einem lasten, kann ich mich besser beherrschen. Nicht nur für Kinder, auch für Eltern ist der Raum zur Verbesserung potenziell unbeschränkt.


Michèle Binswanger

Die studierte Philosophin ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.