«Ich möchte zu Papi ziehen!» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Ich möchte zu Papi ziehen!»

Lesedauer: 3 Minuten

Wenn der Sohn unerwartet zum Ex-Mann zieht, ist das für eine Mutter schmerzlich. Dass es sich lohnt, ungeliebte Realitäten zu akzeptieren, hat Valerie Wendenburg selbst erlebt. 

Text: Valerie Wendenburg
Bild: Rawpixel

Die Stimmung ist anders als sonst. Wir sitzen im Wohnzimmer, es ist einer dieser Sonntagabende, an denen meine drei Söhne vom gemeinsamen Wochenende bei ihrem Vater nach Hause kommen. Meine fünfjährige Tochter albert herum, aber niemand lacht. Endlich traut sich einer der 17-jährigen Zwillinge, die Worte auszusprechen, von denen er ahnt, dass sie mich mit Wucht treffen werden. «Ich möchte zu Papi ziehen!». Für mich fühlt sich dieser Moment an wie ein Schock.  

Die Vorgeschichte ist schnell erzählt: Mein Ex-Mann und seine zweite Frau trennen sich und er ist nun auf Wohnungssuche – alleine. Ob jemand mit ihm zusammenziehen möchte, fragt er jetzt seine Söhne. Einer von ihnen entschliesst sich spontan dazu. Auch, wie er mir erklärt, «weil du doch eine Familie hast und Papi sonst ganz alleine ist.» Schon wenige Wochen später verlässt er unser Haus, in dem wir, mein Mann und ich, mit meinen Söhnen und unserer gemeinsamen Tochter leben. Ein Auszug eines der Kinder stand bisher nie im Raum. Ich verstehe den Wegzug als etwas Negatives. Suche die Schuld bei mir, anstatt mich in meinen Sohn hineinzuversetzen. Überlege, was ich falsch gemacht habe und ob es meinem Ex-Mann vielleicht nur darum geht, mich zu kränken. Meine Rolle als Mutter stelle ich in Frage. Ich erinnere mich an vertraute Gespräche und gemeinsame Spaziergänge mit meinem plötzlich verloren geglaubten Sohn. Aus meiner Sicht habe ich doch alles getan, um ihm eine «gute Mutter» zu sein. Warum will er nun lieber bei seinem Vater leben als bei mir? Die beiden Brüder, auch der andere Zwilling, reagieren verständnisvoll und vertrauen auf die enge Bindung, verstärkt durch den gemeinsamen Sport und Freundeskreis.

Empathie statt Mitleid

Ich nehme es nicht so locker. Während der nächsten Tage bewege ich mich durch den Alltag wie in Trance, bemitleide mich selbst und fühle mich wie nach einer erlittenen Niederlage. Als ich einem Kollegen spontan von meinen Sorgen berichte, schaut er mich belustigt an. Schliesslich sagt er: «Eines verstehe ich nicht: Warum ziehen nicht alle drei Jungs zu ihrem Vater? Wäre mein Traum gewesen in dem Alter.» Ein cooleres Angebot könne es doch kaum geben, erklärt er mir: «Stell dir vor: den ganzen Tag sturmfrei, keine Kontrolle und keine Mutter, die ständig fragt, wann du endlich dein Zimmer aufräumst und Hausaufgaben machst». Er lacht und ich werde das Gefühl nicht los, dass er meinen Sohn um dessen Freiheit beneidet. Abends erreiche ich endlich meine beste Freundin, die mir am Telefon weniger schonend als ehrlich beibringt, dass ich eigentlich glücklich sein sollte, da alle Kinder in den vergangenen zwölf Jahre bei mir gewohnt hätten. «Jetzt ist ihr Vater auch mal dran, findest du nicht?» Beide Gespräche lassen mich nachdenklich und verwirrt zugleich zurück. Am nächsten Morgen begreife ich: Was mein Kollege und meine Freundin mir sagen wollten: «Versetz dich in die Lage der anderen und hör auf, dich selbst zu bemitleiden.» Bis heute bin ich beiden dankbar dafür, dass sie mir die Augen geöffnet haben.

Vertraute Gespräche führen wir immer noch, auch wenn der gemeinsame Alltag nicht mehr existiert.

Mein Sohn wohnt nun seit zwei Jahren bei seinen Vater, wenige Kilometer von uns entfernt. Er hat sehr oft sturmfrei. Pausenbrote schmiert ihm niemand mehr und seine Wäsche muss er alleine waschen. Er hat wirklich gut kochen gelernt und lädt mich regelmässig zum Essen in seine Wohnung ein. Vertraute Gespräche führen wir immer noch, auch wenn der gemeinsame Alltag nicht mehr existiert. Wir haben das Privileg, uns in Ruhe zu zweit treffen zu können, was vorher in einem Haus mit vier Kindern eher selten der Fall war. Mein Sohn kommt, wann immer er Lust hat, zu uns und fährt mit uns in die Ferien. Meine Ängste, das gegenseitige Vertrauensverhältnis zu verlieren oder keine Zeit mehr füreinander zu haben, wurden nicht bestätigt. Im Gegenteil: Räumliche Entfernung ist kein Gradmesser für zwischenmenschliche Beziehungen, das wird mir einmal mehr klar. Es lohnt sich, Vertrauen in das Gegenüber zu haben und die Dinge einfach laufen zu lassen. Irgendwann gehen die Kinder aus dem Haus, leicht ist das für Eltern selten. Nicht ohne Grund gibt es das «Empty-Nest-Syndrom», das zu Schlaflosigkeit, Traurigkeit, Lustlosigkeit und zu schweren Depressionen führen kann. Der plötzliche und unverhoffte Auszug meines Kindes hat mich vor eine Herausforderung gestellt. Doch er hat die über viele Jahre entstandene enge Bindung zu meinem Sohn nicht erschüttert. Dies auch, weil ich seinen Entschluss respektiere und keine alten Konflikte mit seinem Vater aufleben lasse. 

Glücklicherweise kam ich nur kurz in die Versuchung, meine eigenen Träume über die meines Sohnes zu stellen. Die Brüder hatten von Anfang an mehr Vertrauen in die Situation, konnten die Beweggründe wohl auch besser nachvollziehen. Die Beziehung zwischen den Geschwistern ist nach wie vor vertraut, sie beruht auf einem festen Fundament. Für die Zwillinge bedeutet die neue Wohnsituation auch eine grössere Eigenständig- und Unabhängigkeit. Allein meine heute siebenjährige Tochter erinnert ihren grossen Bruder regelmässig daran, dass er damals «einfach so» ausgezogen sei. Seine Anwesenheit fehlt eben doch, das bringt sie in ihrer kindlichen direkten Art unverblümt zum Ausdruck.

Valerie Wendenburg

Valerie Wendenburg
ist Journalistin und lebt in Bottmingen BL. Neben dem alltäglichen Spagat zwischen Familienleben, Arbeit und selbstbestimmter Zeit ist es ihr wichtig, die Beziehung zu jedem ihrer vier Kinder und zu ihrem Mann in den unterschiedlichen Lebensphasen zu pflegen. www.valeriewendenburg.ch

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