Warum ich Kinder habe
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Warum ich Kinder habe

Lesedauer: 2 Minuten

Unsere Kolumnistin Michèle Binswanger blickt zurück auf den Moment, der entscheidend dafür war, dass sie heute Kinder hat.

Text: Michèle Binswanger

Über Geschmack lässt sich nicht streiten, so heisst es, denn Geschmack ist eine persönliche und emotionale Frage, an der sachliche Argumente abprallen. Dennoch verliert sich alle Welt in Diskussionen darüber. Bei der Kinderfrage ist es ähnlich. Abhängig von den Variablen persönliche Geschichte, Umfeld, Partner und Zufall sind die Argumente dafür oder dagegen zahllos und meistens gruppieren sich ganze Glaubenssysteme darum. Doch letztlich sind Kinder ein Axiom, eine Setzung.

Warum also habe ich Kinder? Das weiss ich auch nicht so genau. Die Antwort muss eine Spurensuche sein. Als radikaler Teenager fand ich die Welt viel zu böse, um sie Kindern zuzumuten. Als Studentin überraschte mich die Welt positiv, allerdings fragte ich mich nun, ob ich selber gut genug war, mich einem Kind zuzumuten. Aber die Frage blieb abstrakt, Kinder und Babys fand ich intellektuell uninteressant und nervlich anstrengend.

Und dann gab es da in den Neunzigerjahren in Basel dieses Kunstprojekt namens @home. Es war ein grosses, offenes Atelier auf einem stillgelegten Areal, in dem eine Handvoll Künstler das Wohnen zur Kunstform erklärten, ein Projekt zwischen sozialer Plastik und Spiel, zwischen Factory Life und Kommunenexperiment. Ich war damals Mitte zwanzig, wohnte ebenfalls auf dem Areal und war häufig zu Gast. @home war der Knotenpunkt eines kreativen Netzwerks, Leute jeden Alters und jeder Konvenienz gingen ein und aus, Künstler, Kuratoren, Theoretiker, Randexistenzen, es gab Essen und Partys und Happenings, manchmal mit, manchmal ohne Kinder.

Ich weiss nicht mehr wann, wie und wo es passierte. Aber nachdem ich zahlreiche Partys ohne und Happenings mit Kindern erlebt hatte, ging mir eines Tages auf, wie Kinder ein soziales Gebilde verändern. Es ging nicht um ein spezielles Kind, ein spezielles Elternpaar oder ein spezielles Erlebnis. Die Anwesenheit der Kinder hatte eine ganz allgemeine Wirkung, wie der Kiel eines Boots, der es stabil hält. Oder eine konkave Linse, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bündelt. Gegenwart, weil man sich um ihre Bedürfnisse kümmern muss. Vergangenheit, weil man dazu auf seine eigenen Erfahrungen zurückgreift und sie reflektiert. Zukunft, weil sie uns überleben werden.

Ein Kind zu gebären heisst, selbst als Mutter geboren zu werden, die eigene Persönlichkeit in eine zuvor unbekannte Richtung zu überschreiten.

Es war eine abstrakte, etwas diffuse Erkenntnis. Das mag ihnen banal vorkommen, aber in meinem Fall bereitete dieses allgemeine, vom individuellen Murks befreite Gefühl den Boden vor, auf dem der später von meinem Mann vorgebrachte Wunsch, mit 25 spätestens Vater zu werden, Früchte trug.

Seither habe ich zahlreichen Debatten über die Kinderfrage gelauscht, hörte Freundinnen darüber klagen, dass sie gerne Kinder hätten, andere darüber, dass die Gesellschaft kinderlose Frauen diskriminiere, wieder andere monierten, wie sehr eine Familie Frauen verändere und andere, dass es keinen idealen Zeitpunkt gibt, Kinder zu haben, dass die Tatsache, sich bewusst dafür oder dagegen entscheiden zu müssen grausam, ein Ding der Unmöglichkeit sei. Und alle haben irgendwie recht.

Richtig ist aber auch, dass Kinderlose die Grösse dieser Erfahrung nie werden verstehen können. Sie ist «bigger than Life». Für Frauen, so meine Theorie, ist sie gar transzendent, denn ein Kind zu gebären heisst, selbst als Mutter geboren zu werden, die eigene Persönlichkeit in eine zuvor unbekannte Richtung zu überschreiten.

Man kann es auch nüchterner ausdrücken, wie Bill Murray im Film Lost in Translation. «Wenn dein erstes Kind geboren wird, ist das der erschreckendste Tag deines Lebens. Dein bisheriges Leben ist vorbei und es wird nie mehr so sein, wie zuvor. Aber dann lernen sie zu gehen und sie lernen zu sprechen und du willst mit ihnen sein. Und sie erweisen sich als die wundervollsten Menschen, denen du in deinem Leben je begegnen wirst.» Diese Erfahrung, meine ich, ist alle Opfer wert.

Michèle Binswanger
Die studierte Philosophin ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.

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