Hochsensitive erzählen: «Das ist ein Handicap» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Hochsensitive erzählen: «Das ist ein Handicap»

Lesedauer: 3 Minuten

Maria, 45, selbst hochsensitiv, kümmert sich intensiv um ihren hochsensitiven Sohn Noé, 12,der eine enge Begleitung im Alltag braucht. Das ist für den Rest der Familie nicht immer leicht.

Aufgezeichnet: Claudia Landolt
Bilder: Kyle Myles

«Für mich war die Diagnose Hochsensitivität eine Befreiung. Endlich wusste ich, warum mir als Kind die Schule so viel Mühe bereitet hat. Erfahren habe ich es durch die Abklärung meines Sohnes. Schon im Kindergarten fiel mir sein Verhalten auf und ich liess ihn auf eine Aufmerksamkeitsstörung abklären. Das war eine regelrechte Odyssee, von Kinderarzt über Schul­pädagoge, Schulpsychologe und Schulpsychiater. Erst der Sozialpädagoge fand heraus, dass Noé ausgeprägt hochsensitiv ist. 

Die Diagnose kenne ich seit sechs Jahren, aber eine wirklich alltagstaugliche Strategie habe ich noch nicht herausgefunden. Den Alltag mit einem hochsensiblen Kind empfinde ich als ein echtes Handicap. Noé braucht nicht nur extrem viel Ruhe und Schlaf, er ist auch häufiger krank als andere Kinder, und fokussieren kann er sich ganz und gar nicht. 

Im täglichen Leben heisst das: Ich muss ihm alles immer wieder in Erinnerung rufen und kontrollieren, ob er es gemacht hat. Hausaufgaben kann er nicht alleine bewältigen, auch für Prüfungen lernen geht nicht alleine. Ich muss mich mit ihm hinsetzen, ihn coachen und mit ihm lernen. Es ist, als ob ich mich ständig komplett in ihn hineinversetzen würde. Das ist auch nicht einfach für meinen Mann, er fühlt sich durch diese intensive Beziehung oft ausgeschlossen. Auch für mich, die sowieso viele Ruhepausen benötigt, ist das sehr anstrengend. 

Noé macht der Übertritt in die Oberstufe und der damit verbundene Notendruck sehr zu schaffen. Er hat oft Selbstzweifel und sehr grosse Angst, nicht richtig zu sein, nicht zu genügen. Wir haben uns daher entschlossen, ihn in die Sekundarschule zu schicken und nicht ins Gymnasium. Der einzige Ort, an dem er keinen Lerndruck spürt, ist das Fussballfeld. In seiner Mannschaft holt er sich das Selbstbewusstsein, das ihm in der Schule fehlt.»

Die hochsensible Mia (11) wollte nicht mehr zur Schule

Mia, 11, ist besonders lärmempfindlich. Auch der hohe Lerndruck im Unterricht stresst die Primarschülerin.

«Ich vertrage es nicht, wenn Menschen laut sind. Wenn jemand angeschrien wird, ist das für mich ganz schlimm, auch wenn ich selbst gar nicht gemeint bin. Dann muss ich weinen und kriege Ohrenschmerzen. In meiner früheren Schule hat es mich mega gestresst, wenn eine Lehrerin laut gesprochen hat oder wenn viele Kinder durcheinander sprachen, es wild zu und her ging. Wenn der Klasse eine Kollektivstrafe verpasst wurde, litt ich sehr und habe ganz lange darüber nachgedacht.Auch wenn ich danach eine Aufgabe lösen oder einen Test schreiben musste, studierte ich noch daran herum. Oft sind mir in der Schule die Pausen zu laut, dann ziehe ich mich zurück, wenn möglich an einen ruhigen Ort. 

Seit den Herbstferien gehe ich in eine neue Schule. Dort fühle ich mich wieder wohl und das Lernen macht wieder Spass. In der alten Schule hielt ich den Druck fast nicht aus. Ich hatte jeden Tag mindestens eine Stunde reguläre Hausaufgaben, dann musste ich zusätzlich lesen und mich auf Prüfungen vorbereiten. 

Weil ich gleichzeitig auch alles perfekt machen und meiner Klassenlehrerin gefallen wollte, hatte ich noch mehr Stress. Fast allen meinen Kolleginnen erging es gleich, ich litt mit ihnen mit. 

Irgendwann war mir alles zu viel. Ich konnte nicht mehr einschlafen, aus Angst, etwas vergessen zu haben; ich konnte mich nicht mehr entspannen, da ich Hausaufgaben machen wollte, um danach doch noch mit Freunden abmachen zu können, und weinte fast jeden Tag. Irgendwann wollte ich nicht mehr zur Schule gehen.»

«Rituale im Alltag geben meiner Tochter Sicherheit»

Annette Müllers Tochter ist hochsensitiv, Neues und Ungewohntes machen ihr Angst. Auch die Schule hat die Neunjährige schon verweigert.

«Ein hochsensitives Kind zu haben, empfinde ich im Alltag als grosse Herausforderung, vor allem, weil ich selbst nicht so ausgeprägt hochsensitiv bin. Bei meiner Tochter äussert sich die Hochsensitivität in vielen Aspekten, die von mir und dem Rest meiner Familie sehr grosse Rücksichtnahme verlangt.

Für mich ist immer die Frage: Wie finde ich eine gute Balance zwischen ihren Bedürfnissen, dem Respekt vor ihrer Persönlichkeit und der Organisation des Alltags sowie meinen Erwartungen? Ich tue mein Möglichstes, meiner Tochter den Umgang mit ihrer Hochsensitivität leichter zu machen, aber manchmal fehlen mir einfach ganz praktische, alltagstaugliche Tipps. 

Wenn sie überreizt und überstimuliert ist, kommt es immer wieder zu Tränen oder Wutanfällen. In solchen Momenten wünsche ich mir mehr Gelassenheit und Geduld. Die Gesellschaft macht es den Hochsensiblen und ihren Familien ja auch nicht leichter. Manche Leute denken einfach, ich hätte meine Tochter nicht im Griff, oder meinen, sie sei einfach nur schlecht erzogen, beispielsweise wenn sie sich weigert, einen Arzttermin wahrzunehmen. Dabei tut sie es ja nicht aus Trotz, sondern aus einer Not, weil sie nicht weiss, was sie dort erwartet. Ich bereite sie nun wochenlang auf solche Termine oder Ortsveränderungen vor. 

Um ihr Sicherheit zu geben, haben wir einen Wochenplan visualisiert und schaffen viele Rituale im Alltag.So muss sie an meinem Arbeitstag mittags nicht in den Hort, sondern meine Mutter kommt zu uns nach Hause und kocht, damit sich meine Tochter ausruhen kann. In der Schule machen ihr die vielen Lehrerwechsel immer wieder Kummer, so sehr, dass sie auch schon nicht mehr in die Schule wollte. 

Übertritte oder neue Fächer machen ihr Angst. Sie denkt einfach viel früher und viel intensiver über solche Dinge nach als andere Kinder.»