Vom Verlieren und Wiederfinden - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Vom Verlieren und Wiederfinden

Lesedauer: 2 Minuten

Unser Kolumnist Mikael Krogerus begibt sich auf die Suche nach einem verlegten Erbstück – und findet Erinnerungen.

Ich hoffe, dass ich sie nur verlegt und nicht verloren habe. Ist sie mir durch das gerissene Innenfutter meiner Jacke gerutscht? Wurde sie mir gestohlen? Oder hat mein Sohn sie, Gott bewahre, in einem schwachen Moment im Internet versteigert?

Sie, das ist die etwas eigenwillige Armbanduhr aus den späten 1940ern, die ich nach dem Tod meines finnischen Grossvaters übernommen hatte. Eine vergoldete Herrenuhr mit Handaufzug, das Lederband war bereits spröde, das Glas von einer merkwürdigen Mattheit. Der Sekundenzeiger hinkte ein wenig, sodass man mit der Zeit immer später dran war.

Mein Grossvater verlor so ziemlich alles an der Front – bis auf seine Uhr.

Man sah ihr das Alter an, auf eine gute Art, so wie älteren ­Männern auf Schwarz-Weiss-Fotos aus den 1940er-Jahren. Getragen habe ich die Uhr nie, zu sehr fürchtete ich, mit ihr an meinem schmalen Handgelenk verkleidet auszusehen. Aber allein der Gedanke, dass ich sie besass, hatte etwas Beruhigendes.

Mein Grossvater hatte sie angeblich während des sogenannten Winterkriegs getragen, als die Sowjetunion im bitterkalten Winter 1939 Finnland blitzkriegartig erobern wollte. Die Finnen, unvorbereitet und schlecht ausgerüstet, stellten sich dem Erzfeind auf Skiern entgegen. Ganz vorn: mein Grossvater.

Die Uhr im Graben und weitere Erinnerungen

Er hatte, soweit ich mich erinnern kann, nie mit uns Enkelkindern über den Zweiten Weltkrieg gesprochen. Am Abend meiner Konfirma­tion aber erhob er sich nach etlichen Gläsern Wein und einigen Cognacs und begann zu erzählen: «Es war so kalt, dass wir an der Front in dem gefrorenen Boden Gruben aushoben und uns zu dritt übereinanderlegten, um uns gegenseitig zu wärmen. Alle paar Minuten wechselten wir die Stellung, damit der Oberste nicht erfror – um die Zeit abzupassen, schaute ich auf diese Armbanduhr. Und als die Granaten über uns flogen, sangen wir …»

(An dieser Stelle setzte mein Grossvater an zu einem kehligen «Vårt land, vårt land, vårt fosterland» – die Nationalhymne Finnlands. An unserem Tisch schauten alle gequält zu Boden, meine Mutter seufzte schwer und scharrte mit den Füssen.) Ich möchte hier die vor Kriegs­hysterie und Nationalismus triefende Rede meines Grossvaters abkürzen: Er verlor so ziemlich alles an der Front – bis auf seine Uhr.

Ich hoffe wirklich, dass ich sie nur verlegt und nicht verloren habe.  Auf der Suche nach der Uhr bin ich zum Schluss gekommen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Verlegen und Verlieren. Es gibt Dinge, die ich im Laufe meines Lebens unwiderruflich verloren habe: einen Laptop, einen Arbeitsplatz, ungefähr zwei Jahre glückliches Leben aufgrund von selbstbemitleidendem Liebeskummer, meine innere Stimme, viel Geld, alle Grossväter.

Und dann gibt es Dinge, die ich glaubte verloren zu haben, aber tatsächlich nur verlegt hatte. Dinge, die später wie von Geisterhand wieder auftauchten, genau in dem Moment, als ich aufhörte, nach ihnen zu suchen: meine Lieblings-CD von Sublime, den Willen zu leben, Kindheitserinnerungen an meinen Grossvater. Und, vielleicht, seine Uhr.

Mikael Krogerus
ist Autor und Journalist. Der Finne ist Vater einer Tochter ­und eines Sohnes und lebt in Basel. Von 2013 bis 2023 war er Kolumnist für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi.

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