Manchmal steht das Ziel im Weg - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Manchmal steht das Ziel im Weg

Lesedauer: 1 Minuten
Der Standard-Smalltalk unter Eltern von Jugendlichen kreist um zwei Fragen: Wie hält ihr es mit dem Smartphone? Und: Schafft’s das Kind ans Gymi? Bei der ersten Frage ist man in Sorge, bei der zweiten wird’s existenziell: Man diskutiert Lernstrategien, Prüfungsfragen und die Unfähigkeit des Mathelehrers; man handelt mit Telefonnummern von Nachhilfelehrern und Vorbereitungskursen. Laut einer Umfrage im Bekanntenkreis bekommen alle Kinder private Nachhilfe – das heisst, alle, die es sich leisten können. Denn natürlich ist die Frage nach dem Gymnasiumsübertritt immer auch eine Frage der sozialen Herkunft. Ein Kind auf dem Gymnasium ist das Distinktionsmerkmal im zunehmenden Elitarismus Zürcher Bildungsbürger. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Eltern Tausende von Franken ausgeben für die Vorbereitung oder sogar Prozesse gegen Schulen führen. Ganze Familien zerbrechen an der Gymnasiumsgier der Eltern. Ehrlich, es ist ein Wahnsinn.

Im Kanton Zürich ist der Übertritt verbunden mit einer Prüfung. Es ist ein sogenannter High-Stakes-Test. Das sind Prüfungen, bei denen es um alles geht, weil das Ergebnis unmittelbare Konsequenzen hat. Führerscheinprüfung, Theater-Vorsprechen oder Aushebung sind solche. Oder eben die Gymi-Prüfung. Über 80 Prozent scheitern dort. Und wer besteht, kommt nicht erhobenen Hauptes ans Gymnasium, sondern gerädert und verängstigt.

Natürlich will niemand bestreiten, dass Lesen, Schreiben und Rechnen im Leben eher hilfreich als hinderlich sind. Und niemand wünscht sich eine Welt, in der jeder Schüler ein Gymnasium besuchen muss. Und doch ist etwas aus dem Ruder gelaufen: Der Unterricht von der fünften bis zur siebten Klasse dient weniger der Vorbereitung aufs Leben als der Vorbereitung auf den Übertritt. «Teaching to the test» nennt man es in den USA, wenn die Lehre auf die Prüfung ausgerichtet ist. Antriebsfeder eines solchen Systems ist die Angst vor dem Scheitern – und nicht etwa die Lust an Inhalten. Es ist ein Spiegel unserer Gesellschaft: Die Menschen in der Bank, in der Fabrik, in der Redaktion bangen um ihren Arbeitsplatz – und die Schüler in der Sek bangen um ihren Übertritt. Mit der Angst vor dem Scheitern kann man natürlich Kinder zwingen, stillzusitzen, Dreisatz zu lernen oder Grammatik zu pauken. Aber mit Angst wird man nie Menschen dazu bringen, lange nachzudenken, Bücher zu lieben, für Themen zu brennen.

Eltern erzählen, dass ihre eben noch so frohen Kinder in der sechsten, siebten Klasse plötzlich desinteressiert und «abgelöscht» werden. Viele glauben, dies seien Vorboten der Pubertät. Ich meine: Das ist Quatsch. Nach zwei Jahren Sek darf man sich nicht wundern, wenn im Kopf eines 13-Jährigen das letzte Fünkchen Interesse, Begeisterung oder kritisches Denkvermögen getilgt ist und nur noch der Gedanke an den Notenschnitt zählt.

Das Problem liegt letztlich darin, dass die Gymi-Prüfung nicht jene Fähigkeiten misst, die man braucht, um ein grossartiger Mensch zu werden, sondern jene – und zwar ausschliesslich jene –, die es braucht, um die Gymi-Prüfung zu bestehen. Manchmal steht das Ziel eben im Weg.


Mikael Krogerus

ist Autor und Journalist. Heute lebt der Finne, Vater einer Tochter und eines Sohnes, in Biel und schreibt regelmässig für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi und andere Schweizer Medien.