Fliegen lernen: Mehr Leichtigkeit für unsere Kinder
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Mehr Leichtigkeit für unsere Kinder

Lesedauer: 2 Minuten

In den Bergen denkt unsere Kolumnistin Michèle Binswanger darüber nach, was ihr Flügel verleiht – und wie sie dieses Gefühl auch ihren Kindern mitgeben kann.

Text: Michèle Binswanger
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Die Angst vor dem Fliegen habe ich immer viel besser verstanden als den Wunsch danach. Fliegen im Flugzeug machte mir Angst, und wenn ich vom Fliegen träumte, schwebte ich nicht sanft über Hügel, sondern wurde durch die Gegend geschleudert. Obschon begeistert vom Klettern, wurde ich, anders als meine Kletterpartner, nie warm mit der Idee, mit einem Gleitschirm zu Tal zu schweben.

Beim Klettern gehst du an deine Grenzen, um auf keinen Fall zu stürzen. Heute weiss ich, dass Wunsch und Angst zusammenhängen: Erst wenn man seine Angst überwindet, wird man frei und kann sich fallen lassen in dem, was man tut. 

Das ging mir auf, als wir ein paar Tage in den Bergen verbrachten, meine beiden Teenies, mein Partner und ich: Skifahren, Fondue, Sauna, das ganze Programm. Patchworkfamilien können anstrengend sein, ebenso Ferien mit Teenagern, aber diesmal war alles anders.

Als Eltern warnt man seine Kinder vor Gefahren. Aber lehrt man sie auch, sich fallen zu lassen, lehrt man sie zu fliegen?

Das Wetter war gut, die Stimmung harmonisch, die Teenager motiviert und lustig, die Beziehung mit dem Partner innig. Das Sonnenlicht brach sich in den Schneekristallen des frisch hingelegten Pulvers, wir sausten die Pisten hinunter, einen Song im Ohr: Es fühlt sich, wie fliegen an.

Allerdings: Wenn man durch einen verschneiten Wald spaziert, der Schnee unter den Stiefeln knirscht, der Atem in Wölkchen vor dem Mund tanzt, das Hochgefühl einen trägt wie ein Luftstrom. Wie als Kind, als Alltagssorgen und Erdenschwere noch keine Rolle spielten.

In den Bergen dachte ich nie an den grauen Himmel im Unterland, die griesgrämigen Pendlergesichter, die schlimmen Nachrichten über den Zustand der Welt, das Elend und Leiden der Menschen, das sinnlose Gezanke in den sozialen Medien. 

Wie fliegen sich anfühlt

Und selbst der Gedanke, so viel Glück doch nicht verdient zu haben, konnte sich in der Schwerelosigkeit des Moments nicht festsetzen. Im vollen Bewusstsein, dieses Glück unverdient geschenkt bekommen zu haben, genoss ich es trotzdem. Fühlt sich, wie fliegen an.

Ein verschneiter Bergwald ist nicht immer zur Hand, aber es gibt viele Möglichkeiten, zu fliegen. Du verliebst dich, du vergisst dich beim Tanzen, im Beruf gelingt dir etwas, du hörst einen Song, der dich berührt: «Ich lasse mich fallen und fall in dich hinein, so leicht muss Liebe sein.» 

Wir sollten nie vergessen, dass Angst dazu da ist, sie zu überwinden. Und loszufliegen.

Und wie ich so durch den Schnee stapfte, dachte ich daran, dass meine Kinder bald flügge sind, ihre Arme ausbreiten und flattern werden, unsicher, ob sie es wagen können – meine 17-Jährige spricht schon oft von einer eigenen Wohnung. Und auch wenn das für mich bittersüss ist, erinnere ich mich zu gut an dieses Gefühl, besoffen vom Gefühl der eigenen Freiheit loszufliegen – mit dem bittersüssen Blick zurück.

Natürlich sind wir Menschen erdenschwere Tiere, die Luft ist nicht unser Element, nicht einmal im übertragenen Sinn. Fliegen ist die Ausnahme. Als Eltern warnt man seine Kinder vor den mannigfaltigen Gefahren, den Schwierigkeiten, die es zu erwarten gibt. 

Aber lehrt man sie auch, sich fallen zu lassen, lehrt man sie Leichtigkeit, lehrt man sie zu fliegen? Auch wenn es nur von Zeit zu Zeit und nur kurz gelingt: Wir sollten nie vergessen, dass Angst dazu da ist, sie zu überwinden. Und loszufliegen.

Michèle Binswanger
Die studierte Philosophin ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.

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