Begegnung mit der inneren Glucke - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Begegnung mit der inneren Glucke

Lesedauer: 2 Minuten

Eigentlich dachte unsere Kolumnistin immer, loslassen fiele ihr leicht. Und dann wurden ihre Kinder gross.

Und plötzlich war der Bub einen Kopf grösser und fünf Kilo schwerer, von einem Moment auf den anderen, so schien es. Als die Kinder noch klein waren, passierte das dauernd. Da ging ich manchmal morgens zur Arbeit und wenn ich abends heimkam, sah der Sohn ganz anders aus und ich dachte, als arbeitende Mutter verpasse ich so viel. Aber dann kamen die Kinder ins Schulalter, alles wurde strukturierter und regelmässiger. Kontinuierliche Entwicklung statt Sprünge, begleitet von umsichtigen Primarlehrerinnen, die mich lückenlos über seine Fortschritte und Defizite informierten. Ich focht derweil die klassischen Kämpfe zu Hause aus: Kämm dich, bevor du aus dem Haus gehst, räum dein Zimmer auf, leg dein Smartphone weg, wer hat die Kekse fertig gegessen und die Schachtel nicht fortgeworfen? Ich weiss nicht, wie viele Synapsen mir durchgebrannt sind, während ich das in verschiedenen Dezibelstärken einforderte. Aber ich weiss, dass ich den Tag herbeisehnte, dass er es endlich begreift.

«Eigentlich dachte ich auch immer, loslassen falle mir leicht».

Vielleicht sind mir auch zu viele Synapsen durchgebrannt, denn irgendwo muss ich etwas verpasst haben. Nun ist nämlich alles anders. In diesen Sommerferien brachte ich meinem Zwölfjährigen bei, sich selbst ein Spiegelei zu braten, was bislang an seinem Desinteresse gescheitert war. Ich liess ihn alleine längere Zugstrecken fahren – mit Umsteigen. Nach anfänglichem Zögern erfüllte ihn das mit Stolz. Er sagte mir: «Ich habe nun die Vorteile der Unabhängigkeit entdeckt.» Und seither ist alles anders. Er macht seine Hausaufgaben, wenn ich ihn darum bitte. Er übt Gitarre, ohne dass ich ihn dazu auffordere, er kämmt sich nicht nur, er frisiert sich sogar. Er zieht nicht nur seine Hosen richtig an, er zieht überhaupt nur noch jene Hosen an, die seinem neu entdeckten Stilempfinden genügen. Ist das noch mein Sohn? Oh ja! Aber mir macht das fast ein bisschen Angst, darum frage ich mich: Bin ich noch die Mutter, die ich war? 

«Jetzt entdecke ich eine neue Mutter in mir. Eine, die ich nicht kannte und die verdächtig einer Glucke ähnelt».

Eigentlich dachte ich auch immer, loslassen falle mir leicht. Ich begrüsste jedes neu erworbene Stück Selbständigkeit meiner Kinder. Ich freute mich auf den Tag, da sie auf eigenen Beinen stehen und ihren eigenen Weg suchen würden. Auf die Freiheit, die ich dadurch zurückgewinnen würde. Aber jetzt entdecke ich eine neue Mutter in mir. Eine, die ich nicht kannte und die verdächtig einer Glucke ähnelt. Sie möchte ihre Fittiche über ihr jüngstes Kind breiten und es am liebsten bei sich behalten. Sie denkt nicht mehr an ihre eigenen Freiheiten, sondern an das leere Nest, das irgendwann zurückbleiben wird. Ich kenne solche Glucken und was sie anrichten können. Mein Vater, auch ein jüngster Sohn, erzählte mir von seinen Befreiungskämpfen und wie schwierig das war. Das will ich meinem Sohn nicht aufbürden. Aber bis dahin werde ich die Glucke in mir noch etwas pflegen. Ich werde sie Spiegeleier braten lassen und auf gemeinsame Zugreisen schicken mit dem Sohn. Bis er so weit ist, dann werde ich ihn freilassen und die Glucke zu einem schönen Brathähnchen verarbeiten. Vielleicht kommt der Sohn ja zum Essen.

Zur Autorin


Michèle Binswanger ist studierte Philosophin, Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.