Warum ich nicht gern zur Schule ging – und dennoch Lehrerin wurde - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Warum ich nicht gern zur Schule ging – und dennoch Lehrerin wurde

Lesedauer: 4 Minuten

Viele Lehrpersonen wollen, dass Kinder ihre Seele zu Hause lassen und nur ihren Kopf in die Schule ­bringen, wie der dänische Familientherapeut Jesper Juul einmal treffend feststellte. Doch damit Kinder lernen, braucht es Lehrende, die Beziehungen auf Empathie und gegenseitigem Respekt aufbauen.

Als aufgeweckte Linkshänderin in den 80er-Jahren war es für mich nicht ganz einfach zu bestehen, da Schönschreiben etwas vom Essenziellsten in der Schule war, wie es mir schien. Ganz allgemein hatte ich den Eindruck, dass ich für die Schule nicht wirklich taugte und die meiste Zeit fehl am Platz war.

Warum ich dennoch den Lehrberuf wählte? Ich entdeckte während meiner Lehre zur Bahnbetriebs­sekretärin, dass Lernen wenigstens hin und wieder Freude machen kann. Zum einen gab es da Herrn Perpignano, der mir mit leuchtenden Augen meinen Deutschaufsatz zurückgab und mich dabei lobte. Endlich jemand, der mir etwas zutraute! Zum anderen ergab Lernen für mich das erste Mal Sinn. Ich selbst hatte mich für diesen Weg entschieden und vieles, was ich ­lernte, half mir, meinen beruflichen Weg zu bewältigen und nach der Lehre das Studium zur Lehrerin in Angriff zu nehmen.

«Beziehungskompetenz ist eine pädagogische Kunst, die eine Lehrperson beherrschen muss.»  Petra Gächter war 24 Jahre lang Primarlehrerin und arbeitet momentan als Schulleiterin, Unternehmens­beraterin und Coach. Sie ist Mutter von vier ­schulpflichtigen Teenagern und wohnt in St. Gallen.
«Beziehungskompetenz ist eine pädagogische Kunst, die eine Lehrperson beherrschen muss.»

Petra Gächter war 24 Jahre lang Primarlehrerin und arbeitet momentan als Schulleiterin, Unternehmens­beraterin und Coach. Sie ist Mutter von vier ­schulpflichtigen Teenagern und wohnt in St. Gallen.

Ich bereute diesen Schritt nie. Schule und Bildung wurde zu meinem Lebensinhalt. Die Menschen in der und um die Schule herum faszinieren mich heute noch immer. Ich lernte in all den Jahren enorm viel von den Schülerinnen und Schülern, den Hauptakteuren in der Schule – aber auch von Eltern, Behörden und Kolleginnen und Kollegen. Werden sie abgeholt und begleitet, dann wird Lernen fast zum Selbstläufer.
 
In all den Jahren im Bildungsdienst fragte ich meine Kolleginnen und Kollegen, Behördenmitglieder und auch Eltern immer, ob sie gerne zur Schule gegangen seien. Die Feedbacks waren sehr aufschlussreich: Lehrpersonen sind in sehr grosser Mehrheit motivierte, gut beurteilte und frohe Schülerinnen und Schüler gewesen. Aus den Schilderungen der Eltern erfuhr ich dafür immer wieder interessante Zusammenhänge, die mir in der Elternarbeit und auch im Umgang mit dem Kind halfen. Verschiedene Traumata, Ängste und negative Erfahrungen werden oft auf die eigenen Kinder übertragen und belasten die Zusammenarbeit mit den Beteiligten der Schule.  

Herr Perpignano gab mir mit leuchtenden Augen meinen Deutschaufsatz zurück und lobte mich. Endlich jemand, der mir etwas zutraute!

Dank Jesper Juul stiess ich auf die «professionell-persönliche Entwicklung». Man weiss heute, dass selbst kleinste Anpassungen des Lehrpersonenverhaltens sehr wirkungsvoll sein können. Dies ermöglicht, dass Kinder auf allen Ebenen lernen: persönlich, schulisch und emotional. Oder wie Juul es ausdrückt: «Es geht nicht darum, das Verhalten des ­Kindes zu ändern, sondern wir Erwachsene müssen unser Verhalten ändern.» Unsere eigene persönliche Entwicklung anzugehen und zu forcieren, hat mit einer ernsthaften Professionalität zu tun.

Ein weiterer spannender Aspekt in der Beziehungsarbeit der Schule scheint mir die «persönliche Autorität»: Wenn es uns gelingt, unsere eigene Person in die Beziehung einzubringen, dann wird die traditionelle Autorität (ich Lehrerin – du Kind!) durch persönliche Autorität ersetzt. Das heisst, dass durch Authentizität Beziehungen auf gegenseitigem Respekt und Empathie aufgebaut werden. 

Lernen, mit Kindern zu sprechen statt sie zu belehren

Daher fordere ich, dass in der Ausbildung der Lehrenden vermehrt auf Beziehungskompetenz gebaut wird. «Es zeigt sich in der Realität, dass nicht alle Lehrpersonen wissen, wie man fruchtbare Beziehungen zu den Lernenden aufbaut», gibt Juul zu bedenken. Erstaunlich finde ich auch immer, wie Lehrpersonen zwar wissen, wie man Fragen stellt und die Kinder belehrt. Sie wissen aber nicht, wie man zu und mit ihnen spricht. Lehrpersonen müssten auch lernen, wie man «echte» Gespräche mit Kindern und Jugendlichen führt. «Lehrpersonen wollen nicht in das Leben der Kinder einbezogen werden, sie wollen sie nur belehren. Sie wollen also, dass die Kinder ihre Seele zu Hause lassen und nur ihren Kopf in die Schule bringen. Aber Kinder bringen ihre ganze Existenz in die Schule.» Auch dies ein Zitat von Jesper Juul, welches meine Beobachtungen auf den Punkt bringt, mit der Anmerkung, dass dies glücklicherweise nicht auf alle Lehrpersonen zutrifft.
 
Ich habe mein Herz an dieses Thema verloren. Es gäbe noch so viel zu erzählen, zu fragen und anzustossen. Schüler- und Schülerinnenrat, Elternarbeit, Elterngespräche usw. sind nur wenige der Teilbereiche, die ich für so wichtig erachte.

Negative Erfahrungen und Ängste ­von Eltern werden oft auf die eigenen Kinder übertragen und belasten die Zusammenarbeit.

Und was wurde aus der Petra, die nicht gerne zur Schule ging? Eine Petra, die lernte, für die Schule zu brennen, dank den (zu) wenigen Lehrpersonen, die beziehungskompetent, respektvoll, fördernd, fordernd und authentisch waren. Eine Petra, die Verständnis zeigt für jedes kleine und grosse Wesen, das Mühe mit der Institution Schule hat und die sich mit aller Kraft dafür engagiert, dass die Lernenden die Beachtung erhalten, die ihnen zusteht – vor allem durch Beziehungsarbeit und Beziehungskompetenz.
 
Beziehungskompetenz ist ein Wert und ein Anspruch: eine pädagogische Kunst, die eine Lehrperson beherrschen muss. Investieren wir also in Beziehungsarbeit. Unsere Hauptakteure werden es uns danken und gerne zur Schule gehen und das Lernen freudig in ihrem Leben willkommen heissen!

Dieser Text ist leicht gekürzt und erschien zuerst im Buch «Schule 21 macht glücklich». Das Buch des Verbandes Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz VSLCH ist randvoll mit praktischen Beispielen aus dem Schulalltag und mit Ideen und Visionen von Schulleitenden. Es geht der Frage nach, was die Schule im 21. Jahrhundert tun kann, um ihren Teil zu einem glücklichen, gesunden und selbstbestimmten Leben beizutragen: für die Kinder, die Eltern, die Lehrpersonen, die Schulleitenden und für die Gesellschaft.

Weitere Informationen und eine Leseprobe unter www.schule21.shop


Lesen Sie mehr zum Thema Schule:

  • «Lehrpersonen müssen Entwicklungsspezialisten sein»
    Der Entwicklungspädiater Oskar Jenni ist überzeugt, dass Fachpersonen in der Schule ein breites Wissen über die kindliche Entwicklung brauchen, um angemessen auf Kinder zu reagieren. Deshalb hat er ein Buch für sie geschrieben – und für Eltern.
  • Schule21 macht glücklich
    Im Schweizer Bildungssystem besteht neben dem Lehrplan 21 keine gemeinsam getragene Vision. Höchste Zeit, dies zu ändern! Jetzt schreiben Mitglieder des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz gemeinsam ein Buch über die zeitgemässe Schule im 21. Jahrhundert.
  • «Die heutige Schule ist kinderfreundlicher denn je»
    Die Schule hat Peter Baumann sein ganzes bisheriges Leben begleitet. Jetzt tritt er ab und blickt zurück. Der ehemalige Lehrer und Schulleiter plädiert dafür, Kinder in ihrer Entdeckungsfreude zu bestärken und sich nicht von Schulideologien leiten zu lassen.