Wenn Jugendliche an Selbstmord denken - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wenn Jugendliche an Selbstmord denken

Lesedauer: 7 Minuten

Zwei bis drei Jugendliche mit Selbstmordgedanken rufen täglich bei der Notrufnummer 147 der Pro Juventute an. Das sind laut einer aktueller Mitteilung der Organisation rund 50 Prozent mehr als noch im Jahr 2011. Was treibt Jugendliche dazu, sich umzubringen? Und wie lassen sich Suizide vorbeugen? Antworten und Einschätzungen von Dr. Gregor Berger, Leiter zentraler Notfalldienst beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst des Kantons Zürich. 

Die gute Nachricht zuerst: Nicht jeder, der an Selbstmord denkt, vollzieht ihn auch. Dennoch: Jede Woche nehmen sich in der Schweiz zwei bis drei Jugendliche und junge Erwachsene das Leben. Somit ist Suizid die zweithäufigste Todesursache in dieser Altersphase. 

In der Schweiz leben etwa eine Million junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren. Mit der Pubertät, die heute zwei bis drei Jahre früher einsetzt als noch vor 100 Jahren, beginnt eine Phase der Veränderungen auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene. Immer mehr Adoleszente sind überfordert von den vielen Weichenstellungen in dieser Lebensphase wie etwa dem Einstieg in die Berufswelt, der Ablösung von zu Hause, dem Umgang mit Sexualität und der Entwicklung einer eigenen Identität.

Das Leben wird zur Sackgasse mit einem einzigen Notausgang – dem Suizid.

Jugendliche müssen sich heute mit einer Vielfalt von Möglichkeiten auseinandersetzen, die es vor wenigen Generationen noch gar nicht gab. Die persönlichen und sozialen Entwicklungsaufgaben, die Heranwachsende meistern müssen, sind komplexer geworden. Es fehlen eigentliche Rollenvorbilder oder Werte, die den Adoleszenten in dieser wichtigen Lebensphase eine Orientierungshilfe sein könnten.

Auch Eltern sind mit den schulischen und sozialen Anforderungen, die an ihre heranwachsenden Kinder gestellt werden, häufig überfordert. Besonders alleinerziehende Eltern – eine Situation, die heute keine Ausnahme mehr ist – kommen nicht selten an ihre Grenzen. Die Suche nach ihrem Platz in dieser Gesellschaft, die immer komplexer wird, scheint für eine zunehmende Zahl von Jugendlichen eine Überforderung dazustellen. Besonders Heranwachsende mit wenig persönlichen oder familiären Ressourcen geraten daher nicht selten in eine Situation, in der sie überfordert sind und die im schlechtesten Fall in einem Suizid enden kann.

Depression und Suizid

Ein Suizidversuch in der eigenen Vorgeschichte erhöht das Risiko, einen Suizid zu vollenden. Im Jahr vor dem Suizid sind in bis zu 90 Prozent der Fälle die Kriterien einer psychischen Störung erfüllt. Etwa die Hälfte der Betroffenen leidet dabei zum Zeitpunkt des vollendeten Suizides an einer depressiven Erkrankung.

Die Schwierigkeit bei jungen Menschen ist jedoch, dass sich das depressive Zustandsbild oft anders präsentiert als bei Erwachsenen, besonders bei männlichen Jugendlichen. Häufig ist es nicht die Trauer, die dominiert, sondern eher Gereiztheit, eingeengtes Denken, Antriebslosigkeit, sozialer Rückzug und eine erhöhte Bereitschaft, übermässige Risiken einzugehen. Depressive Jugendliche sprechen eher von einer «Nullbockstimmung», ziehen sich zurück, klagen darüber, sich nicht verstanden zu fühlen, sind aggressiver als sonst oder zeigen ein für die Betroffenen atypisches überbordendes Verhalten.

Verkannte Not

Schlafstörungen bei Jugendlichen werden häufig verkannt und auf den schlechten Lebensstil zurückgeführt. Auch ein verstärkter Medienkonsum oder Drogenexzesse werden bei Adoleszenten viel zu schnell verharmlost. Nicht selten werden Jugendliche oder junge Erwachsene nach solchen Zwischenfällen exzessiven Drogenkonsums ohne psychiatrische Abklärung von der Hausarzt-, der Kinderarztpraxis oder der Notfallstation nach Hause geschickt. Die Möglichkeit, dass eine depressive Grunderkrankung hinter solchen Verhaltensveränderungen stehen könnte, wird von Angehörigen, aber auch von Ärzten oft viel zu lange nicht in Erwägung gezogen.

Es ist zwar nachvollziehbar, dass Betroffene oder deren Angehörige solche Probleme nicht zu früh psychiatrisieren möchten. Doch das Verkennen der unerträglichen Not von Jugendlichen in einer suizidalen Krise birgt grosse Gefahren.
Suizidgefährdete beschreiben den Zustand vor einer suizidalen Verhaltensweise u. a. als unerträglichen seelischen Schmerz und leiden sehr. Sie befinden sich folglich in einem Zustand von akutem Stress, sozusagen in einer das Denken und Fühlen einengenden Sackgasse mit einem einzigen Notausgang – dem Suizid. Die Türe dieses Notausgangs wird zu einem Zeitpunkt äusserster Not mit dem Wunsch geöffnet, das unerträgliche Leiden zu beenden, und nicht wie häufig angenommen mit dem Wunsch zu sterben.

Wohlüberlegter Suizid bei klarem Bewusstsein? Das kommt sehr selten vor.

In der Regel bringt sich niemand gerne um, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass Jugendliche und junge Erwachsene dem Leben wohlüberlegt ein Ende setzen wollen, wenn sie bei klarem Bewusstsein sind.

Rausch als Risiko

Studien konnten auch zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit eines vollendeten Suizids unter Drogeneinfluss höher ist als wenn Jugendliche und junge Erwachsene nicht Alkohol, Cannabis oder andere Drogen konsumieren. Es wird zudem wahrscheinlich, dass die unerträglichen traumatischen Erlebnisse, die Jugendliche im suizidalen Modus erleiden, in ihren Köpfen bleibende Spuren hinterlassen und unter Berücksichtigung der ausgeprägten Hirnplastizität hirnorganische Veränderungen nach sich ziehen.

Diese Spuren oder besser Narben bleiben ein Leben lang bestehen und erklären zumindest teilweise das massiv erhöhte Suizidrisiko nach einem Suizidversuch bzw. nach dem Durchleben dieses Modus, der in jeder suizidalen Krise erneut reaktiviert werden kann.

Hotspots und Schusswaffen

Länder wie die Schweiz oder die USA weisen eine vergleichsweise hohe Rate von Suiziden durch Schusswaffen auf. Trotzdem glaubt immer noch eine Vielzahl von Bürgern, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Schusswaffen und Suizid gibt.
Doch nicht nur die Schusswaffen, auch nicht abgesicherte Brücken oder ungesicherte Bahngleise sind ein Problem. Die Suizidexperten sprechen hierbei von Hotspots. In Regionen, in denen diese abgesichert wurden, ging die Suizidrate zurück.

Überlebende eines schweren Suizidversuches, zum Beispiel eines Sprungs von der Golden Gate Bridge, sterben in 93 Prozent der Fälle nicht durch eine Wiederholung des schweren Suizidversuches und sind glücklich, gerettet worden zu sein. Daher ist es wichtig, sich dafür einzusetzen, dass der Zugang zu solchen Methoden des Suizides minimiert wird.

Eine psychische Erkrankung erhöht das Risiko, an einem Suizid zu sterben, etwa um den Faktor 10.

In der Schweiz bedeutet dies auch einen zeitgemässen und vernünftigen Umgang mit der Dienstwaffe. Besonders auch deshalb, weil Schusswaffen die Möglichkeit des erweiterten Suizids, bei dem zuerst andere Personen getötet werden, in einem grossen Mass vereinfachen – eine besonders tragische Form des Suizides, die in der Schweiz jedes Jahr mehrmals vorkommt.
Dementsprechend ist es bei psychisch kranken Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, besonders bei Männern, wichtig zu fragen, ob sie zu Hause Zugang zu Waffen haben, oder im Zweifelsfall entsprechende Massnahmen einzuleiten. Dabei genügt in aller Regel eine Gefährdungsmeldung durch eine Fachperson an die Polizei.

Persönlichkeitsfaktoren

Bei Heranwachsenden kommt es häufig zu Phasen von selbstverletzendem Verhalten, Suizidhandlungen oder Suiziddrohungen. Falls solche Verhaltensweisen bei Adoleszenten immer wieder vorkommen, ist es wahrscheinlich, dass eine psychische Störung vorhanden ist.
Konkret darf nicht vergessen werden, dass bei Patienten mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung chronische Suizidalität ein häufiges Symptom ist. Und etwa 10 bis 15 Prozent dieser Patienten nehmen sich im Verlauf ihrer Erkrankung auch tatsächlich das Leben.
Schwierig ist, dass viele Adoleszente ähnliche Verhaltensweisen zeigen, die jedoch nicht bis ins Erwachsenenalter überdauern und daher schwer von der normalen adoleszentären Entwicklung abgegrenzt werden können. Nur ein Bruchteil der Betroffenen beansprucht tatsächlich professionelle Hilfe.

Dennoch ist es äusserst wichtig, dass auch bei Jugendlichen die zugrunde liegende Störung – sei es eine Depression, eine Angststörung, eine Psychose oder eine Suchterkrankung – erstens frühzeitig erkannt und zweitens mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln effektiv behandelt werden sollte, gegebenenfalls auch mit Medikamenten.

Die Not der Angehörigen

Die mit einem vollendeten Suizid verbundene Not bei Angehörigen, Freunden, Lehrern und Helfern wie Psychologen und Ärzten ist gross. Pro Suizid sind etwa sechs nächste Angehörige und nahe Bezugspersonen betroffen. Bei jungen Menschen sind es sogar meist mehr Menschen, teilweise ganze Schulklassen und Ausbildungsbetriebe.

Möglichkeiten der Prävention und Hilfe

Die Sicherung von sogenannten Suizid-Hotspots ist eine effektive Massnahme, damit Jugendliche in grosser Not nicht an Orte gehen, von denen bekannt ist, dass sich Menschen bereits erfolgreich suizidierten. Dabei kann es sich um bauliche Massnahmen wie das Aufspannen von Netzen handeln oder das Aufstellen von Überwachungskameras oder Notrufsäulen, die den Leidenden noch die Möglichkeit geben, Hilfe zu holen. Die bauliche Absicherung von besonders exponierten Bahngleisen verringert nicht nur die Suizidrate, sondern wirkt auch präventiv gegen die Traumatisierung von Lokomotivführern.

Präventionskampagnen können hilfreich sein

Eine Reihe von Untersuchungen von präventiven Kampagnen in Schulen und der Allgemeinbevölkerung hat gezeigt, dass bereits generelle und sorgfältig durchgeführte Präventionskampagnen die Suizidrate reduzieren können. Die anfängliche Angst, dass solche Kampagnen suizidgefährdete Jugendliche oder junge Erwachsene zur Nachahmung im Sinne des «Werther-Effektes» animieren könnten, liess sich nicht bestätigen. Die sachgemässe Auseinandersetzung mit der Suizidalität per se bewirkt noch keinen Suizid.

Bei über mehrere Tage nicht erklärbarer Veränderung im Verhalten eines Jugendlichen, unerklärbarer andauernder Gereiztheit oder sozialem Rückzug sollte dies ernst genommen werden und der Jugendliche oder junge Erwachsene motiviert werden, professionelle Hilfe anzunehmen. Dies, weil das Vorhandensein einer psychischen Erkrankung das Risiko, an einem Suizid zu sterben, etwa um den Faktor 10 erhöht. Wesentlich für Fachpersonen wie auch Angehörige und Bezugspersonen ist das direkte und offene Ansprechen bei einem Verdacht erhöhter Suizidalität.

Menschen in seelischer Not Raum und Zeit bieten

Suizidale Menschen stossen mit ihrer leider immer noch tabuisierten Problematik sehr häufig auf Ablehnung und fühlen sich in ihrer Not weder ernst genommen noch verstanden. Wenn eine Vertrauensperson jungen Menschen Raum und Zeit bietet, ihre seelische Not, ihren unerträglichen psychischen Schmerz, auszudrücken, fühlen diese sich markant entlastet und in ihrer suizidalen Krise nicht mehr alleine.

Suizidprävention und -hilfe ist ein komplexes Unterfangen. Zentral ist die Aufrechterhaltung oder Etablierung tragfähiger Beziehungen mit dem Betroffenen. Suizidversuche sollten immer ernst genommen werden, auch wenn diese im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen oder von situationsbedingten Problemen auftreten. Die Früherkennung von psychischen Störungen wie Depression, Angst, manischdepressivem Kranksein oder psychotischen Erkrankungen wie der Schizophrenie sind im Zusammenhang mit der Suizidprävention von grosser Wichtigkeit.

Eine frühzeitige Erkennung und effektive Behandlung der zugrunde liegenden Probleme birgt die grösste Chance für eine Reduktion der Suizidhäufigkeit. Wenn jedoch Eltern oder Helfernetz merken, dass eine Beziehungsaufnahme immer schwieriger wird und der Betroffene sich zunehmend zurückzieht, ist es empfehlenswert, frühzeitig professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, gegebenenfalls als letzte Option auch die Einweisung in eine psychiatrische Klinik in Erwägung zu ziehen.


Risikofaktoren für einen Suizid

  • Suizidversuch in der eigenen Vorgeschichte
  • psychische Störungen wie z. B. Depressionen, die sich in Gereiztheit, eingeengtem Denken, Antriebslosigkeit, sozialem Rückzug und einer erhöhten Bereitschaft, übermässige Risiken einzugehen, oder auch Schlafstörungen äussern kann
  • selbstverletzendes Verhalten
  • Suiziddrohungen
  • Drogenkonsum
  • Hotspots: nicht abgesicherte Brücken oder ungesicherte Bahngleise
  • Zugang zu Schusswaffen

Hier finden Betroffene und Angehörige Hilfe

  • niederschwellige Angebote wie «Hilfe + Beratung 147» der Pro Juventute Schweiz, Tel. 147, «Die Dargebotene Hand», Tel. 143, oder der «Elternnotruf», Tel. 0848 35 45 55
  • «Bündnis gegen Depression» (kantonal)
  • Kriseninterventionszentren in Winterthur, Zürich, Basel, Bern und an weiteren Standorten
  • Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst (KJPD)
  • Organisationen wie Trialog Schweiz, wo Betroffene, Angehörige und Experten zusammenkommen (u. a. durch Schulbesuche)
  • private Anbieter wie z. B. die Krisenintervention Schweiz der Clienia Schlössli AG, die Betriebe und Schulen beraten, mit psychischen Krisen umzugehen

Über den Autor

Dr. Gregor Berger ist Oberarzt und Leiter zentraler Notfalldienst beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst des Kantons Zürich (KJPD).
Dr. Gregor Berger ist Oberarzt und Leiter zentraler Notfalldienst beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst des Kantons Zürich (KJPD).