Flüchtlinge in der Schule: Amina sucht noch Freunde
Zehn Minuten und viele Wikipedia-Fakten später dürfen die anderen Schülerinnen und Schüler aus dem Kurs «Deutsch als Zweitsprache» (DAZ) die 14-Jährige bewerten. Amir hebt die Hand: «Sehr, sehr gut. Ich habe noch nie einen Vortrag so geschafft», sagt er und sieht fast ein bisschen eingeschüchtert aus. Amir kam vor zweieinhalb Jahren aus dem Iran in die Schweiz. Amina lächelt verlegen. Sie ist vor knapp einem Jahr aus der Ukraine hierher geflohen.
In ihrer alten Heimat war sie eine sehr gute Schülerin. «Ich bin wirklich froh, dass Amina jetzt da ist, sie ist motiviert und macht Dampf – so zieht sie auch die anderen mit», sagt Kathrin Aschwanden, Lehrerin für DAZ.
Obwohl sie in ihrer Zeit in der Schweiz schon sehr viel Deutsch gelernt hat, kann sie nicht mithalten bei ihren gleichaltrigen Mitschülern, die hier geboren wurden. Den regulären Deutschunterricht und die Förderklassen besucht sie mit den schwachen Schülern. In Englisch und Mathe darf sie bei den starken Schülern des A-Zugs mitmischen. Französisch lernt sie mit den viel jüngeren Anfängern. Alle anderen Fächer sind nicht nach Niveaus aufgeteilt – hier lernen alle gemeinsam.
Als Teenager unter Kindern
Es ist die erste Stunde, in der Amina nicht so wirklich motiviert wirkt. Vielleicht liegt es daran, dass Französisch für Amina schon die fünfte Sprache ist, die sie in ihrem noch jungen Leben lernen soll. Nach Ukrainisch, Russisch, Englisch und Deutsch. Vielleicht aber liegt es doch auch daran, dass sie sich wie ein Fremdkörper fühlt zwischen den jüngeren Kindern. Wenn man sie darauf anspricht, nimmt sie es mit Humor: «Es ist halt manchmal lustig, dass ich so runterschauen muss zu den anderen», sagt sie und lacht leise. Einen Vorteil aber haben die so viel jüngeren Mitschülerinnen. «Die Mädchen sind alle total lieb und neugierig und kümmern sich um Amina», berichtet die Französischlehrerin. Und die Jungen? «Eher nicht – aber das liegt nicht an Amina. Jungs finden Mädchen in diesem Alter eh doof.»
Nach den ersten paar Wochen, in denen Amina eher allein unterwegs war, suchten die Lehrpersonen das Gespräch mit den anderen Teenager-Mädchen. Diese fühlten sich allerdings angegriffen und missverstanden. «Wir haben doch gar nichts gemacht», sagten sie. Das stimmte. Aktiv ausgegrenzt hatte niemand. Aber: «Man merkt an Kleinigkeiten, ob jemand integriert ist», sagt Sportlehrerin Caro Emmenegger. Wenn die Mädchen durcheinander rennen und Fangen spielen, sei alles okay. Wenn sie aber anstünden beim Hochsprung zum Beispiel, falle auf, dass sich manche lachend unterhalten und andere einfach nur allein und ruhig herumstünden.
Überhaupt machen sich die Lehrpersonen und die Schulleitung in Grosswangen sehr viele Gedanken über das Thema Integration. In der Förderklasse, die Amina am Montagmorgen gleich nach Deutsch als Zweitsprache besucht, scheint die Lehrerin sogar die Deutschübungen darauf ausgelegt zu haben, dass die Mädchen miteinander ins Gespräch kommen. Die Schülerinnen und Schüler sollen Sätze in den verschiedenen Zeiten bilden. «Als Kind habe ich », «Früher habe ich », «Jetzt mache ich », «Später werde ich » Amina und ihre Sitznachbarin bringen die Übung ruckzuck zu Ende: «Als Kind habe ich viel geschlafen», «Jetzt mache ich viele Hausaufgaben», «Später werde ich ich weiss noch nicht.» Damit haben sie zwar die korrekten Verbformen eingefügt, aber quasi nichts voneinander erfahren. Jetzt sitzen sie schweigend nebeneinander und schauen nach vorne. «Frau Marberger, was sollen wir jetzt machen?» «Ja, seid ihr schon fertig? Da darf man ruhig auch mehrere Sätze bilden! Ihr sollt einfach miteinander reden. Frag sie doch mal, wie es in der Ukraine war!», motiviert die Lehrerin.
Aminas Mitschülerin gehorcht brav. Sie erfährt, dass Aminas Schule sehr gross war. Dann sitzen beide Schülerinnen erneut still nebeneinander. «Wo wohnst du?», fragt Aminas Mitschülerin in die Stille. Sie sagt die Adresse. Wieder Stille. Dann wagt Amina selbst einen Versuch: «Was hast du an deinem Geburtstag gemacht?», fragt sie, und jetzt kommen endlich ein paar Sätze zustande, die nach einer Unterhaltung klingen. Aber es ist anstrengend. Es ist Unterricht.
Schulleiter Urs Camenzind will nicht schön reden, was schwierig ist: «In diesen Zeiten ist es für die Kinder aus Flüchtlingsfamilien nicht leicht, Anschluss zu finden», sagt er. Es kämen gleich mehrere Schwierigkeiten zusammen: «Die Sprachbarriere, Kulturdifferenzen, aber auch eine bestimmte Grundskepsis Fremden gegenüber.» Der Widerstand, der in Deutschland gegenüber Flüchtlingen herrsche, sei auch hierzulande zu spüren – und das ginge natürlich auf die Kinder über.
Dieses Problem sei an sich nichts Neues, «aber der Anspruch hat sich verändert – also, dass Schulen die Integration in die Gesellschaft leisten sollen». Daneben betont auch Camenzind gruppendynamische Prozesse, die bei Jugendlichen in dem Alter eben normal seien. Und: «Die Persönlichkeit des Kindes spielt natürlich auch eine Rolle. Wir erleben Amina als eher zurückhaltend.»
Nachdem Aminas Heimatstadt Donezk von den Russen eingenommen worden war, die auch das Haus der Familie zerstörten, sind sie und ihre Mutter erst einmal innerhalb der Ukraine geflohen. «Aber wer aus Donezk kommt, ist nirgendwo gerne gesehen – in anderen Städten wurde unser Auto zerkratzt, und ich fand keinen Job», erinnert sich die Mutter. Als sich dann die Möglichkeit ergab, mit einem Bus voller Flüchtlinge in den Westen zu ziehen, ergriff Aminas Mutter diese Chance. Heute ist sie stolz darauf, dass ihre Tochter so schnell Deutsch lernt. Nur eines macht ihr Sorgen: «Ich glaube, sie hat es schwer in der Schule. Früher hat Amina viel häufiger Freunde mitgebracht und ist auf andere zugegangen. Jetzt ist sie so verschlossen.»