Wie lebt man Achtsamkeit in der Familie? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wie lebt man Achtsamkeit in der Familie?

Lesedauer: 4 Minuten

Der Alltag mit Kindern ist mitunter stressig. Durch die Achtsamkeitspraxis sollen Familien zu einem entspannteren Miteinander finden. Aber wie funktioniert das? Familie Hiestand aus Goldiwil bei Thun hat es ausprobiert – und ist begeistert. 

«Mama, welche Farbe fehlt noch beim Regenbogen?» – Ayana hält inne, es tropft blau aus dem Pinsel auf ein Blatt Papier auf dem Esstisch. Noch einmal ruft die Siebenjährige  zum Sofa hin, auf dem ihre Mutter Ariane sich gerade mit dem Besuch unterhält: «Mama! Welche Farbe?» Ariane Hiestand unterbricht kurz das Gespräch: «Ihr habt doch da drüben den Regenbogen aus Holz, da kannst du dir anschauen, welche Farbe er hat.» Ayana ist nicht zufrieden: «Nein, du sollst doch aber kommen. » Jetzt wendet sich Ariane ihrer Tochter voll zu: «Ayana, ich würde mich hier gern noch unterhalten. Ist das für dich okay, wenn du das alleine machst? Oder ist es wirklich superwichtig, dass ich komme?» Ayana überlegt kurz, ehe sie den Pinsel wieder in Farbe taucht: «Nein, du musst nicht kommen.» 

«Wie möchte ich mit meinem Kind umgehen? Wie schaffe ich eine Verbindung zu ihm, die uns beiden guttut?» 

Es ist ein milder Samstagnachmittag im Februar im Dorf Goldiwil bei Thun. Familie Hiestand – Mutter Ariane und Vater Ivo sowie die Töchter Elina, 10, Ayana, 7, und Junah, 4 – hat es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht und geniesst die gemeinsame Zeit. Sie toben und balgen, schauen Fotos aus dem vergangenen Urlaub in Sri Lanka an und kuscheln auch mal eine Runde mit Mama. Auf dem Tisch stehen Guetsli und Mandarinen, die Eltern trinken Kaffee, die Mädchen Chai. Ein Samstagnachmittag wie bei vielen Familien. 
Bewusst Zeit miteinander verbringen: Papa Ivo Hiestand und Tochter Junah haben Spass.
Bewusst Zeit miteinander verbringen: Papa Ivo Hiestand und Tochter Junah haben Spass.
«Die Achtsamkeitsschulung ist nichts, was von aussen sonderlich spektakulär aussieht», sagt Walter Weibel. Der Berner Sozialpädagoge und Achtsamkeitsexperte hat sich in den vergangenen Jahren als einer der ersten in der Schweiz auf «Mindful Parenting» spezialisiert, zu Deutsch achtsame Elternschaft. In mehrwöchigen Kursen führt er Eltern an die Achtsamkeitspraxis heran. Das Thema Achtsamkeit rückte für Ariane Hiestand in den Fokus, als sie vor zehn Jahren mit ihrem ersten Kind schwanger war. Als Kinderpflegefachkraft hat sie viel mit Frühchen gearbeitet, war für den bewussten Umgang mit Leben sensibilisiert. «Wie möchte ich mit meinem Kind umgehen? Wie schaffe ich eine Verbindung zu ihm, die uns beiden guttut? Das waren die Fragen, die mich damals umgetrieben haben», erinnert sich Ariane. Sie stiess auf die Achtsamkeit, las viel dazu, besuchte Seminare. Die Tipps für einen achtsamen Alltag schienen ihr nützlich.

Die eigenen Gefühle wahrnehmen

Doch nach der Geburt von Elina merkte sie auch schnell: Eigentlich braucht sie das nicht. Sie fühlte sich nicht gestresst oder ausgelaugt, ein gemütliches Jahr sei das erste mit Kind gewesen. Dann kam die zweite Tochter, im Beruf wurde es anstrengender, der Familienalltag war mehr und mehr durchgetaktet. «Ich habe gemerkt, dass es immer wieder zu Situationen kam, in denen ich nicht mehr wusste, wie ich jetzt richtig reagieren kann», erzählt Ariane. Sie besann sich auf die Achtsamkeit und buchte einen Kurs in MBSR – Mindfulness Based Stress Reduction, zu Deutsch Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion. Ihr Mann Ivo war mit im Boot. Die jungen Eltern haben in dem Kurs unter anderem gelernt, wie es sich auf andere auswirkt, wenn man es selbst schafft, ruhig zu bleiben. Ein wertvolles Gut im Familienalltag. 
Eine neue Qualität des Zusammenseins dank Achtsamkeit: Familie Hiestand im Garten ihres Hauses in Goldiwil bei Thun. 
Eine neue Qualität des Zusammenseins dank Achtsamkeit: Familie Hiestand im Garten ihres Hauses in Goldiwil bei Thun. 
Noch konkreter wurde es im Kurs «Mindful Parenting», den Ariane und Ivo vor einem Jahr bei Walter Weibel belegt haben. Hier bekamen sie Ideen, wie sie in konkreten Situationen respektvoll mit ihren Kindern und miteinander umgehen können. Einer der wichtigsten – und nicht immer leicht umzusetzenden – Tipps für Ariane ist: erst einmal «schnuufe». Wenn die Familie dringend zu einem Termin muss, die Mädchen aber lieber noch spielen, hilft das enorm. «Früher war ich da schnell gestresst, habe dann auch die Kinder gehetzt, dass sie sich endlich anziehen sollen», erinnert sich Ariane. «Heute kann ich mit solchen Situationen viel besser umgehen. Ich atme einmal tief durch, komme kurz zur Ruhe und kann diesen stressigen Kreislauf unterbrechen. Das gibt uns die Chance, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen und das Projekt ‹Aufbruch zum Termin› gemeinsam mit frischer Energie angehen statt dass ich diejenige bin, die die Kinder antreibt.» 

Online-Dossier Achtsamkeit und Entschleunigung

Wie entschleunigt man das hektische Familienleben? Was bringen Achtsamkeitsübungen? Nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie unser grosses
Wie entschleunigt man das hektische Familienleben? Was bringen Achtsamkeitsübungen? Nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie unser grosses Online-Dossier zum Thema Achtsamkeit und Entschleunigung.


Das Telefon auf lautlos stellen

Das «Im Hier sein» spielt bei der Achtsamkeit die wichtigste Rolle. Im Alltag mit Kindern heisst das: mit der ganzen Aufmerksamkeit bei ihnen sein, wenn sie etwas erzählen, ohne dabei auf den Fernseher oder das Smartphone zu schauen; aus einem Nebeneinander ein Miteinander machen. «Das ist eine andere Qualität des Zusammenseins», sagt Weibel. Das bewusste Sichhinwenden geniessen die Kinder in der Familie Hiestand sehr. Ariane hat sich angewöhnt, das Telefon auf lautlos zu stellen, wenn sie mit den Mädchen ein Buch anschaut. Beim Mittagessen sitzen alle Hiestands beisammen, halten sich an den Händen und sagen einen Tischspruch. «Das ist nur ein kurzer Augenblick des Innehaltens, aber wir sind dann wirklich alle präsent», sagt Ariane. Die Eltern setzen sich abends ans Bett jedes ihrer Töchter und überlegen zusammen, was diesen Tag einzigartig gemacht hat und wofür sie dankbar sein wollen.

Mit dem Konzept können die Töchter wenig anfangen

Mit dem Konzept der Achtsamkeit können Elina und Ayana wenig anfangen: Die Familie redet nicht darüber, sondern praktiziert sie. Ariane hat beobachtet, dass sich inzwischen auch die Wahrnehmung ihrer Töchter geschärft hat. So ist es Elina, die ab und an ihre Mutter daran erinnert, dass sie doch «erst einmal schnuufe» solle. Und von Ayana hat Ariane schon den Tipp bekommen, dass ihr Verhalten «jetzt nicht okay» war. Die Achtsamkeitspraxis sorgt nicht dafür, dass sich alle Probleme in Luft auflösen. Auch die Hiestands sind mitunter genervt oder raunzen sich an. «Solche Situationen werden aber immer weniger, weil wir gelernt haben, anders miteinander umzugehen », sagt Ariane. 

Erst einmal «schnuufe».

Wer in der Familie ein wenig Achtsamkeit integrieren möchte, kann dafür auf zwei Pfeiler setzen: die formelle und die informelle Achtsamkeit. Die formelle Achtsamkeit meint Übungen, für die man sich extra Zeit nimmt: eine Meditation zum Beispiel, einen Bodyscan oder eine Entspannungssequenz. Die informelle Achtsamkeit ist die, die sich im Alltag situativ anwenden lässt. Dabei geht es darum, es in dem Moment zu schaffen, ganz bei sich oder bei sich und seinem Gegenüber zu sein. 

Ariane Hiestand meditiert regelmässig, für sie sind die Übungen der formellen Achtsamkeit eine wichtige Basis, damit die informelle Achtsamkeit gelingt. Und auch ihr Mann Ivo versucht, immer wieder Zeit zum Meditieren zu finden: «Wir machen das ja nicht nur wegen der Kinder, sondern auch für uns selbst», sagt er. Die kleinen Auszeiten verschaffen ihm Atempausen im hektischen Familienalltag zu fünft. Ob die Achtsamkeitspraxis der Schlüssel für ein entspanntes Familienleben ist? Das wissen auch die Hiestands nicht. «Aber es fühlt sich für uns einfach gut und vor allem besser als vorher an», sagt Ariane.


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